Beschreibung
Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht auf irgendetwas warten. Am Bahnsteig, an der Supermarktkasse, im Wartezimmer - auf das Glück, die Liebe, ein besseres Leben. Diese Wartezeiten summieren sich im Laufe eines Lebens auf durchschnittlich fünf Jahre. Das Warten begleitet uns ein Leben lang und es genießt keinen sonderlich guten Ruf. Meist wird Wartezeit als gestohlene Lebenszeit empfunden, als Eingriff in unseren Tagesablauf. Wer warten muss, fühlt sich fremdbestimmt. Doch kann Warten auch als geschenkte Zeit empfunden werden, als Gelegenheit zur Muße. Warten als Chance innezuhalten in einer sich in zunehmendem Maße beschleunigenden Welt, als Möglichkeit zur Entschleunigung. Gegenwärtige Autorinnen und Autoren wie Stephanie Bart, Marion Brasch, Dietmar Dath, Andrea Diener, Werner Frizen, Andreas Göttlich, Nora-Eugenie Gomringer, Vinzent Klink, Ludger Lütkehaus, Andreas Maier, Philipp Mosetter, Katja Thorwarth, Mark-Stefan Tietze u. a. lassen uns in Originalbeiträgen an ihren 'Wahrheiten über das Warten' teilhaben und unsere Sicht auf dieses Alltagsphänomen überdenken.
Autorenportrait
Stefan Geyer, geb. 1953, lebt als Herausgeber und Autor in Frankfurt am Main. Zuletzt gab er heraus: Vom Glück, Fahrrad zu fahren. Ein literarischer Rückenwind (marixverlag) und Gefangen. Leben und Hoffen hinter Gittern (corso). Georg Christian Dörr, geb. 1973 in Lich. Nach einer Ausbildung als Fotograf und diversen Assistenzstellen arbeitet er seit 2000 als freiberuflicher Fotograf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Stilllife-, Architektur- und künstlerische Fotografie sowie analoge Bildtechniken.
Leseprobe
Auf ein Bier von Philipp Mosetter Ich habe ihr einen Zettel hingelegt. 'Bin bei Klaus' steht drauf. Ich will nicht, dass sie auf mich wartet. Das wäre mir unangenehm. Mit Warten, dieser ungeliebten Tochter der Zeit, kann man sich ja ganz schön dieselbe verderben. Sie wartet natürlich trotzdem, also trotz meines Zettels, den ich ihr ja deshalb hinterlassen habe, damit sie nicht warten muss, weil sie ja weiß, wo ich bin und sie ebenso weiß, dass ich da für gewöhnlich nicht länger als ein oder zwei Bierchen bin. Ich merke es am zweiten Bier. Schon beim ersten Schluck schmeckt das zweite Bier anders. Es schmeckt nicht mehr so schön gesellig, sondern eher, wie soll ich sagen, ungeduldig. Ich probiere noch einen Schluck, tatsächlich. Ich kann ihr Warten tatsächlich am Geschmack meines Bieres erkennen. Zunächst zweifelt man bei solchen, nahezu übersinnlichen Wahrnehmungen ja an sich selbst. Also probiere ich noch einen Schluck. Aber kein Zweifel, ganz nervös schmeckt mein Bier, es kribbelt auf der Zunge, taucht den Gaumen in eine leicht herbe, melancholische Stimmung, die Kälte der Einsamkeit rinnt den Hals hinunter. Eindeutig, sie wartet. Bei einem Rotwein würde man das Warten nicht so deutlich schmecken können. Ein Rotwein ist geschmacklich doch ganz bei sich. Da ich bei Klaus aber Bier trinke, kann ich schmecken wie sie wartet - also bezahle ich. Ich kenne übrigens niemanden, der nachdrücklicher warten kann als sie. Sie würde mir wahrscheinlich auch in den Rotwein ihr Warten hinein schmecken. .