Beschreibung
Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft. Jetzt saß er auf einem Eckplatz und sah in die Fahrt: es geht also durch Weinland, besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den Himmel, feucht und aufgeweht von Ufern; an Rosen ist jedes Haus gelehnt, und manches ganz versunken. Ich will mir ein Buch kaufen und einen Stift; ich will mir jetzt möglichst vieles aufschreiben, damit nicht alles so herunterfließt. So viele Jahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr. Dann lagen in vielen Tunneln die Augen auf dem Sprung, das Licht wieder aufzufangen; Männer arbeiteten im Heu, Brücken aus Holz, Brücken aus Stein; eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus. Veranden, Hallen und Remisen, auf der Höhe eines Gebirges, in einen Wald gebaut - hier wollte Rönne den Chefarzt ein paar Wochen vertreten. Das Leben ist so allmächtig, dachte er, diese Hand wird es nicht unterwühlen können, und sah seine Rechte an.
Autorenportrait
Gottfried Benn (* 2. Mai 1886 in Mansfeld bei Putlitz, Prignitz; gestorben 7. Juli 1956 in Berlin) war ein deutscher Dichter, Essayist und Arzt. Er wuchs als Sohn eines Theologen in einem Pfarrhaus auf. Nach dem abgebrochenen Studium der Theologie schloss er erfolgreich das Medizinstudium ab. 1912 erschien der erste Gedichtband Morgue und andere Gedichte, welcher wegen der drastischen Themenwahl und saloppen Ausdrucksweise einen Skandal provozierte und den Autor als Vertreter der neuaufkommenden expressionistischen Lyrik schlagartig bekannt machte. Mit dem 1918 erschienenen Novellenband Gehirne verfasste er einen bedeutenden Beitrag zur expressionistischen Kleinprosa. Die Zivilisationskritik der Morgue-Gedichte verfolgte er fortan in seinem essayistischen Werk. In Das moderne Ich widmete er sich der Frage nach der Stellung des Individuums in der Gesellschaft.