Beschreibung
In Unser Haus dem Himmel so nah führt Shahla Ujayli ihre Figuren mit sprachlicher Eleganz und Liebe zum Detail durch ein Jahrhundert der Tragik ihres Landes, Syrien, und dringt bis in die gegenwärtige Katastrophe vor. Der Niedergang einer ganzen Familie ist so auch eine Auslöschung durch die Geschichte, der Ujayli, die 1976 in Raqqa geboren wurde und in Aleppo aufwuchs, das stützende Gerüst der Erinnerungen entgegenhält. So ist das Haus ein untergegangener Ort, aber keine verlorene Erinnerung. Im Mittelpunkt des Romans steht die promovierte Anthropologin Djumana Badran, die der Bürgerkrieg nach Jordanien vertrieb. Die Trennung von Eltern und Schwestern, die in Raqqa zurückbleiben, ist nicht ihre einzige Sorge, gegen die sie mit Erzählungen ihrer Familie ankämpft. Sie erkrankt, denn Krieg macht die Menschen krank. Aber schon auf den ersten Seiten des Romans begegnet sie Nasser. In Unser Haus dem Himmel so nah gelingt Shahla Ujayli, Trauer und Freude, Unglück und Glück so zu vermitteln, dass jede einzelne Geschichte einen Hoffnungsschimmer in sich trägt.
Autorenportrait
Shahla Ujayli wurde 1979 in Raqqa (Syrien) geboren. Sie promovierte über moderne arabische Literatur (Univerität von Raqqa) und ist Autorin literatuwissenschaftlicher Bücher. Sie lehrt an der American University in Madaba (Jordanien). Als Schriftstellerin erhielt sie 2019 den International Prize for Arabic Fiction. 2020 wählte das "Ms. Magazin" (USA) Shahla Ujayli unter die wichtigsten feministischen Autorinnen der Gegenwart. Zitat aus der Würdigung: "Die Vielfalt und Komplexität Syriens und seiner Bevölkerung mit den Augen dreier Generationen von Frauen."
Leseprobe
Weder die Restaurants im Ritz noch die Cafés an den Champs-Elysées oder die Prager Straßencafés waren mit der Terrasse des Baron Hotel vergleichbar. Damals war das Hotel ein kleines Gebäude im Herzen Aleppos, in einer Straße, die seit 1946 nach ihm "Baron-Straße" heißt, und zwar in Anerkennung der patriotischen Rolle, die das Hotel während der französischen Mandatszeit gespielt hatte. Da war die Straße allerdings noch nach Henri Gouraud benannt, jenem französischen General, der bei seinem Einzug in Damaskus nach der Schlacht von Maysalun mit dem Fuß gegen Saladins Grabmal getreten hatte und dabei die berühmt gewordenen Worte sprach: "Wach auf, Saladin! Wir sind wieder da!" Das Gebäude des Baron Hotel stammte aus dem Jahr 1906. Ursprünglich besaß es einunddreißig Zimmer und zwei Bäder. Später setzten die Brüder Mazloumian noch ein drittes Stockwerk auf. Östlich davon lag das Viertel Azizieh, der Zufluchtsort des Großbürgertums, wo sich auf den Gehsteigen die Caféterrassen eleganter Restaurants breitmachten: das Wanis, das Schallal, das Cordoba. [.] Dort trafen sich Künstler, Schriftsteller, Geschäftsleute und hohe Beamte. Sie verbrachten ihre Abende bei der Musik armenischer Bands, die die Gabe besaßen, nostalgische Erinnerungen an die Vierziger- und Fünfzigerjahre heraufzubeschwören, als man in Aleppo noch zu bekannten Tango- und Walzermelodien tanzte. Südlich des Baron Hotel, direkt am Stadttor Bab al-Faradsch, stand der Uhrturm, eines der Wahrzeichen Aleppos. Es heißt, Aleppo ließe sich nur durch das Bab al-Faradsch entdecken, und dies, obwohl es noch sechs weitere Stadttore gab. Gleich bei dem Uhrturm befand sich die Nationalbibliothek, Ziel aller Freunde des Lesens und Forschens, des Theaters und der Künste. Zwischen dem Hotel und dem Platz vor dem Bab al-Faradsch verliefen enge parallele Sträßchen. Dort fand man Ersatzteilläden für Autos und landwirtschaftliche Maschinen in direkter Nachbarschaft zu den billigen Hotels - wo sich mehrere Zimmer immer ein Bad teilten. Sie trugen Namen wie Suez Canal, Unity, Syrien und das Libanon. [.] Vor den zahlreichen Restaurants und Nachtclubs wie dem Moulin Rouge und dem Crazy Horse fl anierten sowohl Frauen mit Kopftuch als auch die Stewardessen aller Fluggesellschaften, im Inneren jedoch wimmelte es vor ausländischen Prostituierten, darunter auch manche aus Aleppo. Wenn man auf der Hotelterrasse des Baron saß, hatte man vor sich auf der anderen Straßenseite die Zweigstelle der Arab Writers Union, ein Altbau, in dem Lesungen veranstaltet wurden. In der benachbarten Straße lag das Al-Kindi-Cinema, an dessen Türen aufreizende Plakate von alten Schundfi lmen klebten. Wie angewurzelt standen die Jugendlichen davor, kauten ihre Falafelsandwiches und starrten auf die verlockenden Bilder nackter Frauen. Meistens zogen sie bald weiter, an den alten dicht gedrängten Häusern vorbei zu den Kleidergeschäften, die sich in der Quwwatlistraße aneinanderreihten. Dem Kino fehlte es allerdings nie an Besuchern, egal, welcher Film gerade gezeigt wurde. Oft sah man dort Teenager, vielleicht auch Studenten, die keine andere Möglichkeit fanden, sich alleine zu treffen, und nur in den Saal gingen, um sich in die hinteren Reihen zu setzen, zu knutschen oder in aller Eile Sex zu haben. [.] An den Sommerabenden saßen wir oft auf der großen Terrasse vor dem Baron Hotel. Von der Straße trat man ein paar Stufen hinauf, die aus dem gleichen Stein gehauen waren, den man für die niedrige Brüstung verwendet hatte. [.] Nie war ich zu den Hotelzimmern hinaufgegangen, in denen oft Prominente genächtigt hatten - heute sind die Zimmer nach ihnen benannt. Ich hatte stets das Gefühl, Agatha Christie könne herunterkommen und mir gegenüber Platz nehmen, Gamal Abd al-Nasser könne sich im nächsten Moment auf den breiten Balkon stellen, um den Massen zuzuwinken, oder aber türkische, englische und französische Militärführer könnten am langen Tisch hinter uns ihre Verschwörungen aushecken, die