Beschreibung
Chemnitzer Trilogie Teil 2
Leseprobe
Bernd wohnte in einer der letzten großen Wohngemeinschaften von Frankfurt am Main. Das Haus in der Schwarzwaldstraße bestand aus einem Hauptgebäude und einem Anbau, hinter dem sich ein ausgedehnter Garten befand und in dem Bernd zwei kleine saubere Zimmer bewohnte. Zwischen den Gebäuden hielt sich ein Innenhof sauber und rechter Hand ein Gruppentrakt mit Küche und Gemeinschaftsklo. Im Sommer stand auf dem Hof ein großer Tisch für achtzehn Leute. Die Wgler lebten so, wie ich es mir erträumt hatte: gemeinsame Kasse und immer jemand da, der bedächtig nickte und selbstgedrehte Zigaretten rauchte. Das alles allerdings in Niedderrad/Frankfurt am Main, nahe des Waldstadions und der Rennbahn. Gegenüber ein Wienerwald. Ich hatte mich vorher nie nach Frankfurt am Main geträumt, überhaupt war der Westen Deutschlands nicht der Ort meiner Sehnsucht, sondern der Süden Europas. Pinien und Olivenhaine bargen ein weit größeres Sehnsuchtspotenzial als der heimische Mischwald. Aber ich träumte von Häusern wie dem von Bernds WG, und in meinen Träumen sprachen deren Bewohner natürlich deutsch, egal ob sie in Spanien lebten oder in Griechenland. Einer von Bernds Mitbewohnern war Besitzer der Öko-Kelterei Matsch und Brei. Naturtrüber Apfelwein mit Speierling. Sauer gespritzt. Das Beste im Sommer. Auch das musste ich erst lernen. Bernds Fenster gingen auf einen Garten hinaus. Ein paar Astern. Studenten- und Sonnenblumen und weniger streng abgeteilte Rabatten. Die Wege waren im hohen und trockenen Gras nur zu erahnen. Erst als die Äpfel eines alten knorrigen Baumes reif waren, bildete sich eine Art Trampelpfad zwischen den Blumen und um den Baum herum. Ich bewarb mich gleich um ein freigewordenes Zimmer. Aber die Hausgemeinschaft suchte eine Mitbewohnerin. Vor allem die Frauen bestanden konsequent auf der Quote! Jeden zweiten Samstag lag der Krach aus dem Waldstadion über dem Haus. Allerdings nahm man dort wenig Anteil an den Siegen der Eintracht, die Anfang der neunziger Jahre ein Hoch und einen jugoslawischen Trainer hatte, Stepanowic, genannt Stepi, der die Mannschaft zusammenhielt während sein Land zerfiel. Jahre später heuerte er auch mal für ein paar Tage in Leipzig an. Beim VfB, der früher Lok hieß. Ein aussichtsloses Unterfangen. Bernd ist im Dezember 1989, einen Monat nach dem Fall der Mauer, mit einer Gruppe Frankfurter Studenten nach Leipzig gekommen. Nachschauen, was los ist, in dieser Stadt, die inzwischen den Beinamen Heldenstadt trug, als hätten die hiesigen Bürger verzweifelt einer feindlichen Übermacht standgehalten, als wären sie, jeder einzeln, in ihrer Verteidigungsbereitschaft über sich hinaus gewachsen. Leningrad. Stalingrad. Leipzig. Oder hatten sie etwa einen unbezwingbaren Feind in den Staub geworfen? Warum sage ich jetzt nicht wir? Wahrscheinlich, weil ich erst zum Aufstand gestoßen bin, oder gestoßen worden war, als schon nichts mehr zu verlieren war. Risikolos. Als es schon eine Stadt voller Davids war und Goliath nur noch eine klapprige Regierung, ein Politbüro, das seine dritten Zähne aus dem Westen kommen ließ, und ein Staatsratsvorsitzender, der wenig später in Chile Journalisten mit einem Gartenschlauch vollspritzen sollte. Ich habe herzlich gelacht, als Bernd mir Stanley Kubricks Dr. Seltsam zeigte und ein Effekt eintrat, wie schon bei der Lektüre von Joseph Hellers Catch 22. Exgefreiter Wintergreen hob darin während des Zweiten Weltkriegs Löcher aus, um sie darauf mit der Erde des nächsten Loches wieder zuzuschütten, und er betonte, dass in einem Krieg jeder eine fest umrissene Aufgabe habe, so wie Milo Minderbinder, ein Angestellter im rückwärtigen Dienst, der die gesamte ägyptische Baumwollernte erworben hatte, um sie mit Schokoladenüberzug an die Soldaten weiterzuverkaufen. Alles, aber auch alles in diesen amerikanischen Kriegsphantasien erinnerte mich an die DDR, und der Cowboy, den Stanley Kubrick im Film auf einer Bombe reiten ließ, erschien mir wie mein alter Batteriechef Oberleutnant Portenreuter von der NVA, der sich bei einer Übung im Nadelwald nur wenige Meter von der Truppe entfernte, uns den Rücken zudrehte, seinen fetten und überaus weißen Arsch in die Sonne hielt und ungeniert in den Heidesand schiss, uns gewissermaßen vor die Füße. Von derartigen Greisen haben wir uns also regieren und befehligen lassen. Noch heute läuft mir ein Schauer über den Rücken. 1989 jedoch hatten sich Ausreisewillige über Monate jeden Montag vor der Nikolaikirche in Leipzig versammelt. Sie hatten nichts gerufen, sie hatten durch ihre Anwesenheit einfach nur gezeigt, dass sie raus wollten, raus aus dem Arbeiter- und Bauernparadies, und sie hatten kleine Stücke von Gardinen um die Autoantennen gebunden, weiße Fähnchen, Zeichen der Kapitulation vor einer Zukunft, deren Gegenwart sie schon nicht mehr ertrugen. Irgendwann im September begannen sie doch noch zu rufen: Wir wollen raus! Wahrscheinlich weil sie befürchteten, sie könnten die letzten sein, die blieben, die letzten also, die all die weißen Ärsche ertragen mussten.