Beschreibung
Christine zieht Anfang der 90er Jahre aus der Provinz zum Studium nach Berlin. Überwältigt von den Eindrücken der sich schlagartig neu erfindenden Metropole trifft sie auf den rund zehn Jahre älteren Monty. Der öffnet ihr den Blick für Geschichte und Politik im alten (West-)Berlin, aber auch für die noch unbekanntere Welt des sich völlig verändernden Ostteils der Stadt. Doch so wie sich Ost und West zwei Jahre nach der Wende noch weitgehend fremd bleiben, finden auch Monty und Christine nur langsam zueinander. Geschichte und Eigenart von Straßen und Gebäuden einer Stadt und die Seelenlandschaft ihrer Einwohner, mit ihren ganz eigenen Schichten, Verschüttungen, Sperren und hoffnungsvollen Neuanfängen - all das braucht man, um eine Zeit zu verstehen. 'Erlebnisse, die man nicht aufschreibt, verflüchtigen sich zu indifferenten Erinnerungen.' Ein Roman über das Berlin Anfang der 90er Jahre, der mit großem Detailreichtum, Humor und atmosphärischer Dichte die Stadt in einer Zeit wiedererstehen lässt, in der gesellschaftliche und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten so offen schienen wie nie zuvor oder danach. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung: Wie sah Berlin damals aus, wie fühlte sich Berlin an, als die Stadt wieder zusammenwuchs - erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau, die in dieser Umbruchsituation Leben und Liebe entdeckt. 'Wovon willst du denn erzählen?' 'Von der Teilung Deutschlands. und der Geschlechter.'
Autorenportrait
Nicola Nürnberger: geboren in Frankfurt/M., lebt seit 1991 in Berlin. Ihr Roman 'Westschrippe' über die Jugend eines Mädchens in der BRD der 80er Jahre erschien 2013 im Open House Verlag.
Leseprobe
Viele Höfe weiter im faszinierenden Industriedschungel war es ruhiger, die hohen Gewerbebauten wurden abgelöst durch einstöckige Flachdachbauten, einer in schreiender rosa Farbe, davor saßen Leute auf Klappstühlen, tranken Wein und diskutierten. Eine zur Seite gelegte Eisenplatte, große Scharniere daran, rechts unten geprägt mit der Aufschrift 'VEB Eisenwerk >1. Mai< Tangerhütte', gab ein großes Loch frei, in das sich Monty wie selbstverständlich hinunterließ. 'Kommt mir mal nach, hier kommt dann auch gleich eine richtige Treppe.' Die schmale Stahltreppe wurde von einer Kerze, die in einem Stahlkorb stand, schwach beleuchtet. Monty sang: 'Hab keine Angst vor Dunkelheit, frag nicht, wohin wir gehn. / Wir stolpern einfach vorwärts durch ein weiteres Jahrzehnt. / Mit vollem Bauch und leerem Kopf, auf einem Auge blind, auf der Suche nach Zufriedenheit und irgendeinem Sinn.' 'Wir sind da', grinste Monty, 'das hier ist das neue Berlin, der neue Osten. Unerwartet und unheimlich.' Auf dem rohen Steinboden, der von allerlei Rinnen durchzogen und durch große Zahnräder, weitere Tanks und komplexe Rohrsysteme verstellt war, stand allerlei aus Industrieschrott geschweißtes Mobiliar. Unter der Decke schwebte ein riesiges Reptil, das sich auf die Eintretenden zu stürzen schien. Monty schrie zur eng an ihn herangerückten Gruppe: 'Hier geht's erst ganz spät los, ab eins oder so. Dann isses hier gerammelt voll und alle tanzen. Hinter der Bar geht es hoch zu einem riesigen Plateau. Nicht, dass das meine Musik wäre, aber es hat echt Drive, es ist neu, die Leute hier sind ziemlich jung, die machen sich voll den Kopf frei. Für was Neues. Die wollen gar nicht wissen, was der Kohl sagt. Der alte Mann.' 'Ich glaub, da findet ein Generationswechsel statt, dagegen können wir gar nichts machen. Wir so, die in den 80ern hier waren, hatten ja viel mit Kampf zu tun, Häuserkampf, Straßenkampf, allsowas. Und bei allem Pazifismus haben wir uns doch mit der Polizei gekloppt am 1. Mai und uns heimlich ins Schulheft den RAF-Stern mit der Kalaschnikow drin gemalt. Krieg, Kampf, Knarre waren so bestimmende Worte für viele, aber wir haben ausgedient, die Wiedervereinigung wird uns auffressen.' Er trank einen Schluck Bier, gegen die beginnende Heiserkeit half das aber nichts. 'Ich war im Sommer am Kudamm, da bin ich mit zwei Kumpels hin zu einer Kundgebung, da ging es um politische Häftlinge in den USA. Je näher wir an den Platz gekommen sind, umso seltsamer wurde das. Nix zu sehen von der üblichen schwarzen Demokostümierung, Hasskappen oder so, stattdessen so 'ne Art Karnevalswagen mit wummernder Musik und lauter aufgekratzte Teenies in Neonklamotten. Echt strange! Stellt sich dann raus, dass da parallel so ein Umzug mit Technomusik langzog, nannte sich >Love-Parade<. Total sinnfreie Transparente schleppten die mit sich rum, >My House Is Your House And Your House Is Mine<. Dem konnte ich ja noch was Soziales abgewinnen, aber manche hatten noch Shirts an aus dem Jahr zuvor, da stand tatsächlich >Friede Freude Eierkuchen< drauf.' Er schüttelte den Kopf und trank den letzten Schluck aus seiner Bierflasche. 'Nicht, dass ich das gut fände oder auch so sein will. Aber ganz klar: Das Berlin, West-Berlin genaugenommen, wie wir das hier als ummauerte kleine Schatzinsel hatten, gibt es nicht mehr. Alles wird anders.'