Beschreibung
Vor dreißig Jahren änderten Friedliche Revolution, Mauerfall und Deutsche Einheit in kürzester Zeit unser Lebensumfeld, wir konnten, wir mussten unser Leben neu gestalten, Herausforderungen annehmen, um in einem 'fremden' Land, das nun unseres werden sollte, unseren Platz zu finden. Es ist an der Zeit, die Geschichte und ihre Geschichten zu erzählen. Uta Heyder ist es gelungen, dreißig Männer und Frauen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen dazu zu bringen, sehr persönlich zu berichten, wie sie ihre Wende und die drei Jahrzehnte danach erlebten. Alle haben ungefähr die gleiche Zeitspanne in der DDR und im wieder vereinigten Deutschland gelebt und sind hier wieder oder immer noch zu Hause. Sie erzählen von gewonnener Freiheit und neuen Beschränkungen, von wirtschaftlichem Erfolg, von Unsicherheit und Existenzangst oder vom Abstieg in die Obdachlosigkeit. Die vormalige Sprachmittlerin für Englisch und Russisch bepflanzt jetzt als erfolgreiche Geschäftsfrau den 'Miracle Garden Dubai' mit Sämereien aus Thüringen, der 'Hippie' aus dem Altenburger Land ist inzwischen in der ganzen Welt umhergekommen, machte sein Hobby zum Beruf und hat als Filmemacher Preise ohne Ende eingesammelt, die Pastorin wurde Ministerpräsidentin, der NVA-Offizier startete als Investmentbanker in Manhattan durch und betreibt jetzt ein jüdisches Restaurant in Chemnitz. Die Galeristin stand am 6. Dezember 1990 plötzlich in einer fensterlosen Wohnung, die Eigentümerin aus Bayern hatte die Fenster zur Bekräftigung der Forderung nach Wohnungskündigung einfach ausbauen lassen. Beim Lesen entsteht ein buntes Mosaik. Ein Buch, weitab der üblichen Klischees, erfrischend persönlich, erfrischend differenziert.
Leseprobe
'Bottroper Protokolle - Gespräche aus dem Ruhrgebiet', so nannte sich eine später in Buchform veröffentlichte WDR-Reportage der Filmemacherin und Autorin Erika Runge. Darin kamen Menschen aus dem kriselnden Kohlebergbau zu Wort. Sie sprachen über ihre Arbeit, ihr Leben, über Frauenbilder, Sex und Musik und nicht zuletzt über ihre Sicht auf die Stadt Bottrop. Ohne es selbst darauf angelegt zu haben, entdeckte Erika Runge etwas, das es angeblich nicht mehr gab - Arbeiter in der westdeutschen Klassengesellschaft. Gut 50 Jahre nach dem Erscheinen der Bottroper Protokolle liegt wiederum ein Buch vor, das Lebensgeschichten erzählt. Wiederum geht es um eine Gesellschaft, die es angeblich nicht mehr gibt. Diesmal sind es jedoch nicht die Arbeiter im Kohlerevier, von denen die Protokolle handeln. Nun sind es die 'Ostdeutschen', die in exemplarischen Erzählungen zum Thema werden. Deutschland Ost und Deutschland West - sind das, 30 Jahre nach der Maueröffnung, noch immer verschiedene Gesellschaften? Liest man die biographischen Schilderungen, die von der Autorin Uta Heyder feinfühlig verdichtet wurden, ist die Antwort ein klares 'Ja, aber'. Ja lautet die Antwort allerdings nicht deshalb, weil das dokumentierte Material gängige Klischees über die Ostdeutschen bestätigen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Wer sich als Leserin oder Leser in die biographischen Erzählungen vertieft, wird von der Fülle des Materials geradezu erschlagen. Die Ostdeutschen - selbiges begründet das dem 'Ja' hinzugefügte 'aber' - gibt es eben nicht! Sicher, Mauerfall und Systemwechsel sind prägende Erfahrungen, die teilt, wer in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. Es handelte sich um Ereignisse, die im Osten, wohl stärker als im Westen, eine politische Generation hervorgebracht haben. Politische Generationen entstehen, wie der Soziologe Karl Mannheim herausgearbeitet hat, aufgrund einer gemeinsamen zeithistorischen Lagerung im sozialen Raum. Sie werden durch Schlüsselereignisse geprägt, was keineswegs ausschließt, dass sich einzelne Generationseinheiten sozial, politisch und kulturell aufs Heftigste bekämpfen. Verbundenheit in ständigen Auseinandersetzungen - das ist ein gemeinsames Merkmal der (Nach-)Wendegeneration mit eigener DDR-Erfahrung. Wie die dokumentierten Lebensgeschichten belegen, wurde der gemeinsam erlebte Systemumbruch individuell jedoch höchst unterschiedlich verarbeitet. Er mündete in biographische Auf- und Abstiege, öffnete Chancen für die einen, drängte andere jedoch an den Rand der Gesellschaft und unter die Schwelle sozialer Respektabilität. Die 'Erfurter Protokolle' (gemeint sind die im Buch veröffentlichten, redigierten Gesprächsprotokolle aus Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt) decken dementsprechend eine große Bandbreite an Erfahrungen, Verarbeitungsformen und individuellen Weltsichten ab. Da steht der ehemalige Arbeiter, der nach zahlreichen biografischen Stationen im Hartz-IV-Bezug landet, neben der erfolgreichen Betreiberin einer Model-Agentur, die sich beruflich bis zum Burnout verausgabt hat. Der Migrationskritiker mit Sympathie für manche inhaltlichen Positionen der AfD trifft auf die in der globalisierungskritischen Bewegung engagierte Attac-Aktivistin. Freude über neu gewonnene Freiheiten mischt sich mit der noch immer nicht überwundenen Enttäuschung, dass für einen dritten Weg zwischen DDR-Sozialismus und BRD-Kapitalismus kein Experimentierspielraum blieb. Und das Bewusstsein, ein Regime zum Einsturz gebracht zu haben, das fest im Sattel zu sitzen schien, mischt sich mit Ohnmachtserfahrungen und Sorge um die Zukunft der Gesellschaft und des Planeten. Trotz aller Unterschiedlichkeit findet sich in den Biografien doch so etwas wie eine gemeinsame Tiefengeschichte. Als Tiefengeschichte, deep story, bezeichnet die US-amerikanische Soziologin Arlie Hochschild eine Erzählung, die sich für viele Menschen wie die eigentliche Wahrheit anfühlt. Es wäre sicher möglich, eine solche deep story für Ostdeutsche aus den 'Erfurter Protokollen' herauszulesen. Wie die Menschen im tiefen Süden der USA haben sich die Ostdeutschen in eine Warteschlange eingereiht, die am Fuße eines Berges auf Gerechtigkeit durch Aufstieg wartet. Doch in der Schlange geht es nicht vorwärts. Im Gegenteil, immer wieder machen sich soziale Mechanismen bemerkbar, die den Aufstieg blockieren oder die zum Abstieg zwingen. Mit anderen Worten: Viele Angehörige der Nachwendegeneration sehen sich zu erheblichen Teilen nicht nur materiell benachteiligt, sondern zusätzlich auch kulturell stigmatisiert. So heterogen die sozialen Positionen auch sein mögen - Abwertungserfahrungen machen all jene, die sie teilen, tendenziell gleich. Wer in der 'arbeiterlichen Gesellschaft' (Wolfgang Engler) der DDR heranwuchs, betrachtet sich in der Gegenwart häufig als Objekt einer doppelten Abwertung. Arbeiter, vor allem aber Handwerker waren in der DDR 'Könige', heute zählen sie nichts mehr: 'Ich mache meine Arbeit nach wie vor ordentlich und wenn ich jetzt behandelt werde wie der letzte Dreck, na ja. Wir haben gemerkt, wir sind kein Arbeiter- und Bauernstaat mehr. Wir sind Dienstleister und diejenigen, die die Werte schaffen und der Geldgeber, der die Sachen bezahlt, der sagt, wo es langgeht und wie es läuft. Und das war ein ganz schöner Einschnitt. Da hatte ich mächtig dran zu kauen', erklärt der ausgebildete Installateur Willy Dünnbier im Interview und beschreibt damit treffend eine Grunderfahrung sozialer Abwertung, die sich mit einer zweiten Abwertung verbindet: In ihrem Selbstverständnis sind viele Ostdeutsche Meister der Improvisation. Sie wissen auch bei widrigsten Verhältnissen zu überleben. Sie sind von Natur aus Kämpfer, unter ihnen gibt es Zusammenhalt und schon einmal haben sie bewiesen, zu einer demokratischen Revolution fähig zu sein. Aus der Westperspektive stellt sich das häufig völlig anders dar. Ostdeutsche gelten in der Fremdwahrnehmung als nichtautoritär geprägte Persönlichkeiten, die zur Demokratie erst erzogen werden müssen. Dass mit ungleichen Maßstäben gemessen wird, ist eine Wahrnehmung, die zumindest einen Teil der Ostdeutschen ungeachtet sonstiger sozialer Unterschiede noch immer in einer kollektiven Schicksalsgemeinschaft verbindet. Gleich wo man sich sozial verortet, bei Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen, vor allem aber bei Anerkennung und Wertschätzung ist man noch immer nicht auf dem versprochenen Westniveau angelangt. Wer selbst immer wieder zum Objekt sozialer Abwertung wird, tendiert dazu, Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer zu betreiben. Das Ressentiment, die Abwehr von Fremden und Unbekanntem kann dann leicht zum Mittel werden, um sich in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide zu behaupten. Das trifft auch auf Ostdeutsche zu, die mit der radikalen Rechten eigentlich nichts zu tun haben möchten: 'Mit der AfD habe ich nicht viel am Hut, weil sich da sehr viele Nazis drin tummeln. Und das Schlimme ist auch: Es gibt viele Argumente, die die AfD bringt, die ich teilen kann, wo ich sage, da haben sie recht. Die sprechen das mal aus, was viele hinter der Gardine denken. Ich werde diese Flüchtlingsentwicklung nicht stoppen können. Aber ich habe Angst, in G. abends über die Straße zu gehen. Da sehen Sie natürlich die Ausländer, wie sie sich in unserem Land benehmen. Laufen Sie mal auch am Tage über die Eisenbahnbrücke in G., da kommen Ihnen Gruppen entgegen, die sich völlig hemmungslos in arabischer Sprache unterhalten. Und zwar lautstark. Wenn ich im Ausland bin, dann bin ich etwas zurückhaltend. Keiner weiß, worüber die reden. Keiner weiß, was die in ihren Moscheen über den Koran für Schulungen bekommen. Die Medien haben auch einen großen Anteil, es wird ja jeden Tag darüber berichtet. Gestern war wieder eine Messerstecherei, ein Überfall, eine Begrabschung einer deutschen Frau. Und immer wird gesagt, es war ein Libanese oder ein Syrer. Ein Deutscher kommt da kaum vor. Es ist hier eine Entwicklung losgetreten worden, die nicht mehr steuerbar i...