Beschreibung
Man nannte die aus Thüringen angereiste Theatertruppe schon nach den ersten bejubelten Vorstellungen in Berlin knapp und vertraulich nur 'Die Meininger' - in der Presse und bei den Zuschauern. Diese Bezeichnung übernahm dann später die Theatergeschichte. Das Hoftheater des Herzogs Georg von Sachsen-Meiningen war Ende des 19. Jahrhunderts zur berühmtesten Bühne Deutschlands aufgestiegen. Mit den konzeptionell exakt, auch zeitbezogen erschlossenen, bildstarken, dem Historismus jener Jahre willfahrenden, geradezu hinreißenden Inszenierungen blieb es dank weitreichender Gastspielreisen sechzehn Jahre lang das gefeierte Vorbild in 38 europäischen Städten und erlangte Weltruf. Mit Georgs Inszenierungen und den weithin ausstrahlenden Gastspielen, einer Kulturtat ohnegleichen, gewann das deutsche Theater im 19. Jahrhundert europäischen Anschluss und überdies sogar maßgebenden Einfl uss auf die Entwicklung der europäischen Inszenierungskunst, auf ihre Güte, auf ihren geistigen und künstlerischen Anspruch und auf ihr methodisches Arsenal.
Leseprobe
Man nannte die aus Thüringen angereiste Theatertruppe schon nach den ersten bejubelten Vorstellungen in Berlin knapp und vertraulich nur 'Die Meininger' - in der Presse und bei den Zuschauern. Diese Bezeichnung übernahm dann später die Theatergeschichte. Das Hoftheater des Herzogs von Sachsen-Meiningen war Ende des 19. Jahrhunderts zur berühmtesten Bühne Deutschlands aufgestiegen. Mit den konzeptionell exakt, auch zeitbezogen erschlossenen, bildstarken, dem Historismus jener Jahre willfahrenden, geradezu hinreißenden Inszenierungen blieb es dank weitreichender Gastspielreisen sechzehn Jahre lang das gefeierte Vorbild in 38 europäischen Städten. Beinahe wäre die Bühne noch über den Atlantik gereist. Doch die mehrmals geplante, sechsmonatige Tournee durch große Städte der USA fand aus inneren Gründen nicht mehr statt. Dennoch erlangte das Theater Weltruf. Die Bedingungen dieses Erfolgs sind vielfältig. Es gab günstige subjektive Voraussetzungen. Der regierende Herzog des Landes, Georg II. von Sachsen-Meiningen, ein humanistisch gesinnter, liberal denkender, dennoch zuweilen streng autokratisch herrschender Fürst, war zugleich ein hochbegabter Künstler, das größte künstlerische Genie, das der deutsche Hochadel im 19. Jahrhundert hervorbrachte, Theatermann mit Leib und Seele, besaß er eine reiche Fantasie, die er dank seiner überragenden zeichnerisch-malerischen Begabung und mit einem immensen dramaturgisch-kulturgeschichtlichen Wissen unbehindert in faszinierende Inszenierungsentwürfe umsetzen konnte, unbehindert, weil er, der maßgebend inszenierende Künstler, zugleich als Eigner und Finanzier widerspruchsfrei über ein Theater gebieten konnte - eine Konstellation, die es sonst nirgendwo in Deutschland gab und die ihm auch gestattete, einige hocharistokratische Vorbehalte bei der Behandlung von Stückfassungen durchzusetzen. Dass die Bühne eines deutschen Kleinstaats so rasch zu enormer überregionaler Bedeutung aufsteigen konnte, verdankte sie nicht allein der hohen Qualität ihrer Inszenierungen, sondern - so merkwürdig das klingt - auch der insgesamt misslichen Praxis des damaligen Theaterwesens in Deutschland nach der Reichsgründung, aus der sie wie ein Zukunftsfanal emporragte. Merkmale dieses misslichen Theaterwesens sind im Buch geschildert. Auch die europaweit bald einsetzende begeisternde Wirkung der Inszenierungen und deren innovativer Impuls lässt sich nicht allein aus der zweifellos überragenden künstlerischen Begabung ihres Urhebers erklären, auch nicht vorrangig aus seiner unbehinderten besitzrechtlichen Verfügung über ein qualitativ gut ausgestattetes Theater. Es gab wesentliche objektive Schubkräfte, die bisher zumeist, wenn zwar nicht übersehen, viel zu wenig in ihrer dynamischen Auswirkung analysiert und entstehungsgeschichtlich einbezogen wurden. Für das Wirken dieser Bühne ist vor allem der gesamtgeschichtliche Zeitpunkt bedeutsam, auf den Georg II. sogar mit politischem Spürsinn reagierte und ihn als aktuellen Anreiz oder auch als gelegentliche Abschwächung in seine Inszenierungen einspeiste. Wie das konkret geschah, wird im Buch dargestellt. Allgemein gesehen, herrschte in Europa die Epoche eines Übergangs von der absoluten Vorherrschaft des Adels zu einem allmählichen, zuweilen auch ruckhaft aufsässigen Vordringen bürgerlicher, auf zunehmender kapitalistischer Wirtschaftskraft fußender Lebensverhältnisse im Gegensatz zu dem auf Beharren ausgerichteten Bemühen adliger Kräfte, die ihre bisherigen Herrschaftsstrukturen noch möglichst lange aufrecht zu erhalten trachteten. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist beispielsweise die phänomenale Bedeutung der berühmten Meininger Massenszenen erst voll zu erschließen, die ihre Wirkung keineswegs nur einer speziellen Neigung des Herzogs verdanken und seinem künstlerischen Geschick, solche Massenszenen zu entwerfen und zu arrangieren. Auch das wird im Buch in einem größeren Umkreis entstehungsgeschichtlich verfolgt. So ergeben sich Gesichtspunkte, die in der bisherigen Literatur über die Meininger in Ansatz, Umfang und geistiger Zusammenschau fehlen. Zu den damals Europa prägenden Neuerungen gehört zweifellos der Aufschwung und die zunehmende Internationalisierung der Verkehrsverhältnisse, etwa des Nachrichtenwesens und namentlich des sich ausdehnenden Eisenbahnverkehrs. Er ermöglichte es vor allem, dass ein ganzes Theater mit Sack und Pack, mit allen Dekorationen, Möbeln, Requisiten und Spielern originale Gesamtinszenierungen in andere Orte transportieren und sie dort einem stets neuen lokalen Publikum vor Augen führen konnte. Das erfolgte in einem ausgedehnten Umkreis - von Stockholm im Norden bis Triest im Süden, von London in Europas Westen bis St. Petersburg und Moskau im Osten. Überall wurden die Aufführungen zu hervorstechenden, die gesamte Öffentlichkeit erregenden Ereignissen und die künstlerischen Maßgaben des beispielgebenden Theaters ebenfalls zu einem internationalen Faktum. Das wird im Buch im Einzelnen dargelegt. Die Untersuchung erstreckt sich dabei auch auf den bestimmenden, fördernden oder hemmenden Einfluss des damals gesellschaftlich tonangebenden Publikums - in seiner differenzierten sozialen Schichtung (einschließlich der Theaterkritiker als einem berufsmäßig urteilenden Teil dieses Publikums) im Wandel sozialer, politischer, ästhetischer und theaterkonzeptioneller Auffassungen. Unversehens wird sichtbar, was Stanislawski später einmal so formulierte: Das Publikum sei bei jeder Aufführung neben Autor und Schauspieler ein dritter wesentlicher Mitschöpfer (oder Verhinderer). Nur wenn man immer wieder das Publikum ins Gesichtsfeld rückt, lässt sich eine den Meiningern zuweilen übergestülpte Behauptung widerlegen, sie hätten sich fast ausschließlich nur um die Aufführung bedeutender klassischer Dramen gekümmert und die Stücke zeitgenössischer Autoren links liegen lassen. Das stimmt nicht. Es muss nicht daran erinnert werden, dass Georg II. der erste war, der Stücke von den norwegischen Dramatikern Björnstjerne Björnson und Henrik Ibsen auf die deutsche Bühne brachte und auch persönlichen Kontakt zu ihnen schloss. Auf die Inszenierung der 'Kronprätendenten' von Ibsen, die er bereits 1876 beim Gastspiel in Berlin zeigte, hatte er - in Anwesenheit des Autors auf den Proben - mehr Erfindungsreichtum und Sorgfalt verwendet als auf den gleichzeitig in Berlin vorgestellten und erfolgreichen 'Wilhelm Tell', ja er erwog sogar Ibsen an sein Theater zu engagieren. Dass bereits dieses erste Ibsen-Stück trotz der Inszenierungsqualität ein kompletter Fehlschlag wurde, lag an der Mehrheit des damaligen hochherrschaftlichen Publikums, das Neuem gegenüber unaufgeschlossen war. Ähnliches geschah 1887 mit den 'Gespenstern'. Weitere zeitgenössische Dramen, nicht minder sorgfältig inszeniert, errangen auf den Gastspielen auch nur geringen oder keinen Erfolg. Das betraf die Stücke von Julius Minding (Papst Sixtus V.), von Albert Lindner (Die Bluthochzeit), von Bjørnstjerne Bjørnson (Zwischen den Schlachten). von Otto Ludwig (Der Erbförster), von Henrik Ibsen (Die Kronprätendenten), von Franz Grillparzer (Die Ahnfrau sowie Esther), von Artur Fitger (Die Hexe und Marino Faliero [nach Byron]), von Otto Franz Gensichen (Lydia), von Ludwig Ganghofer (Der Herrgottschnitzer von Ammergau), von José Echegaray (Galeotto) [El gran galeoto, dtsch. von Paul Lindau, Titel Der große Kuppler], von Richard Voß (Alexandra), von Henrik Ibsen (Gespenster) und von Karl Morre (s Nullerl) - Stücke, die zumeist effektvoll waren, ausgedachte überraschende Wendungen besaßen, doch unmittelbar vor dem Beginn der naturalistischen Dramatik keinen zeitbezogenen sozialkritischen Belang aufwiesen. Doch nicht allein die äußeren Ergebnisse der Theaterarbeit werden im vorliegenden Buch betrachtet, sondern auch die Binnenstruktur und Arbeitsorganisation im Herzoglichen Theater selbst als eine der Grundbedingungen des Erfolges erfasst, und das nicht nur allgemein, sondern in der konkreten Analyse am Beispiel eines Insze...