Beschreibung
Mit dem Grundschulzeugnis in der Hand kehrt Sinan in das leergeräumte Häuschen in der Armensiedlung zuruck. Sein Vater hat sich mit seiner neuen Frau aus dem Staub gemacht und fur den ungeliebten Sohn keinen Platz mehr. Sinan treibt sich auf den Plätzen herum, auf denen die Gestrandeten sich sammeln, die Kinder aus den Dörfern, die Abgesturzten, und schließt sich einer Kinderbande an. Er wird zu Sinan die Klinge, dem Jungen, der sich die Arme ritzt, das Betteln, Stehlen und Sprucheklopfen lernt, und dass man dem Hunger und der Kälte mit Pillen und Verdunner beikommen kann. Die Händler vertreiben sie, die Polizei jagt sie und setzt sie an den Stadträndern aus. Als Sinan Gul begegnet, ergreift den Pubertierenden die Liebe. Er beschutzt das Mädchen, will sie und sich aus dem Elend herausholen. Doch fur Romantik ist nur im Kino Platz. Als ein Bandenkrieg eskaliert, plant Sinan den großen Auftritt. Mit Witz und Wärme, ungeschönt und bisweilen brutal schildert Gönul Kivilcim das Leben einer Straßenkindergang, die Gewalt auf Polizeistationen, die Kehrseite der boom town Istanbul. Ihr 2002 erstmals veröffentlichter, auf intensiver Recherche beruhender Roman wurde ins Englische ubersetzt und ist Teil der neuen Literatur der turkischen Gegenkultur.
Autorenportrait
Gönu¨l Kivilcim, geboren 1963, studierte in Istanbul, bevor sie als Korrespondentin nach Berlin ging und ab 1993 fu¨r den WDR als Fernsehjournalistin tätig wurde. Nach ihrer Ru¨ckkehr in die Tu¨rkei arbeitete sie fu¨r die angesehene Zeitung »Radikal«, fu¨r NTV und den Kultursender »Arte« zu politisch brisanten Themen. Sie promovierte in Literaturwissenschaft und veröfffentlichte mehrere Romane und Erzählungen.
Leseprobe
Gul hatte sich verlaufen, als sie Klinge begegnete. Hatte eines Nachts ihre ferne Kindheit und die blaue Schuluniform, die sie nicht anziehen konnte, mitgenommen und war auf die Straße gegangen. Als sie ihr Filiz, ihre neugeborene Schwester, auf den Schoß setzten, war Gul, die nackte Königin der Stadt, neun Jahre alt. In der unbarmherzigen Nacktheit der Sprache sagte man ihr: »Du bist jetzt sozusagen auch eine Mutter. Du hast ein Baby, wie alle anderen Mutter.« Gul, ihre Mutter, die Nachbarn im Viertel, die Polizisten, die ihren Vater abgefuhrt hatten, und die Frauen, die mit ihrer Mutter im Konfektionsatelier arbeiteten, waren alle nackt. Sie hatten Gul ihre Kindheit geraubt, die Bucher, aus denen sie das ABC des Lebens hätte lernen sollen, ihre auf dem Schulweg ausgetretenen Schuhe und das Amulett gegen den bösen Blick, das ihre Mutter ihr unter der Schuluniform um den Hals gehängt hatte. An dem Abend, als ihr Vater von der Polizei abgefuhrt wurde. Als ihre Mutter die Tur geöffnet hatte, war sie von einem Polizisten grob zur Seite gestoßen worden, ehe Dutzende weitere hereingesturmt kamen. Ihr war aufgefallen, wie sehr die Polizisten, die ihn festhielten, ihrem Vater ansahen mit seiner dunklen Haut, seinen buschigen Augenbrauen und seinen schwarzen Haaren, und sie hatte geschrien: »Papa kann ohne Filiz nicht leben. Lasst ihn hier!« Während sie schrie, sah sie aus zusammengekniffenen Augen einen Schatten durch die Tur verschwinden. Den ihres Vaters.