Beschreibung
Ein Geruch von Aceton liegt in der Luft: Zwei junge Frauen mit einem Geheimnis auf der Suche nach einem verschwundenen Geschichtenerzähler, Verführer, Manipulator. Aus einem Spiel mit Zeichen wird bitterer Ernst, als sich nach und nach aus Fragmenten das Bild des Freundes ersteht. Der Debütroman (2022) der Wahlleipzigerin Kuzey Topuz ist ein Irrgarten voller beschädigter Existenzen, Heldenkult, psychischer Gewalt und toxischer Männlichkeit.
Leseprobe
In Istanbul stoße ich auf zahlreiche Hinweise. Sie halten sich auf Dachböden, in Bartoiletten oder auf den Schultern von Atatürk-Büsten versteckt, denn sie sind halb tot, halb lebendig. Wie arme kleine Viren warten sie geduldig darauf, einen Wirt zu finden. Innerhalb kürzester Zeit hat der Freund durch seine Existenz alles infiziert, wie bei einer Epidemie. In jedem Stadtteil kann mir ein einschlägiges Graffiti begegnen oder eine Mütze aus sommerlich leichtem Stoff, die einer bei eisigem Wetter trägt. Zudem sehe ich jedes Mal an derselben Ecke derselben Straße ein vergoldetes Auto. Auch hier war er also schon. Vor dem ersten Spielzug muss zunächst aus drei unterschiedlichen Szenen eine in sich geschlossene Welt konstruiert werden. So entsteht ein Eindruck davon, welchen Situationen die einzelnen Felder jeweils entsprechen. Ausgehend von dem ein 'A' zeigenden Würfel erzählen wir die dem jeweiligen Feld zuzuordnende Geschichte. Jedes Mal, wenn wir ein neues Feld erreichen, dürfen wir drei neue Szenen auswählen. Als Spielfiguren können alle möglichen Gegenstände fungieren. Direkt über dem mit einem Karo versehenen Ziel liegt das mysteriöse Feld 'Glanzvolle Zeit', nach dem das Spiel benannt ist. Was es bedeuten mag, ist mir ein Rätsel. Die übrigen Regeln habe ich mir selbst ausgedacht. Auf dem Feld 'Wunder' zum Beispiel entsteht eine Welt, in der das Schummeln zum Alltag gehört. So kompliziert das Spiel auch erscheinen mag, möchte ich es dennoch für die Suche nach dem Freund nutzen. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens werde ich dadurch eine Beschäftigung haben, ebenso liebevoll wie obskur. Ich werde alles - ob Speisekarten, Schiffsfahrpläne oder Art-Nouveau-Architektur - durch seine Augen sehen. Und zweitens ist er für Sevgi wichtiger als alles, was ihr noch verblieben ist. Indem ich ihr jeden Tag von den schillernden Farben berichte, die er hinterlassen hat, werde auch ich ihn im Gedächtnis behalten. Jeden Abend krame ich die Ausbeute des Tages hervor und lege sie direkt neben die brennende Kerze auf die Kommode. Sevgi hat strahlend weiße Zähne. Bisweilen erträgt sie die schlechten Nachrichten nicht.Dann bläst sie einfach die Kerze aus und wünscht mir, ohne mich anzusehen, eine gute Nacht. Daran erkenne ich, dass das, was ich ihr erzähle, mindestens so brutal ist wie das, was er uns erzählte, ehe er verschwunden ist. Ich schlucke und beginne am folgenden Abend von vorn. Ich will den Freund doch auch zurück.