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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783902498953
Sprache: Deutsch
Umfang: 485 S.
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Ein junger Autor findet in einem Wiener Wettbüro den Schauplatz seines neuen Romans. Fasziniert von den Menschen und deren Hoffnung auf schnelles Geld, taucht er immer tiefer in diese Welt ein. Das Buch wird er nicht schreiben, stattdessen entgleitet ihm sein eigenes Leben auf bedrohliche Weise. Ilir Ferra wirft in seinem neuen Roman einen Blick hinter die Kulissen der Glücksspielindustrie, dabei entsteht ein Panorama der Randbezirke europäischer Großstädte - eine vergessene Gesellschaft, bestimmt von Alltagsrassismen und Schuldverdrängung.

Autorenportrait

Ilir Ferra, geboren 1974 in Durrës, Albanien. Lebt und arbeitet seit 1991 als Autor, Übersetzer und Dolmetscher in Wien. Auszeichnungen (Auswahl): 2008 erhielt er den Preis 'Schreiben zwischen den Kulturen' des Vereins Exil. 2012 erhielt er für seinen viel beachteten Debütroman Rauchschatten (Edition Atelier) den Chamisso-Förderpreis und 2013 das Staatsstipendium für Literatur des bmukk. Zuletzt erschienen: Aus dem Fluss (Prosa)

Leseprobe

'Gehorsam übersetzten die Tasten den Druck meiner Finger in Zahlen und Abkürzungen, welche fließend auf dem Bildschirm erschienen. Ich tippte und kontrollierte meine Eingaben gleichzeitig. Es überraschte mich, wie schnell sich all diese absurden Zeichen für mich mit Inhalt gefüllt hatten. Nie hätte ich vermutet, dass sie so einfach verständlich sein würden. Nie hätte ich gedacht, dass ich sie jemals so schnell beherrschen würde. Mich machte das etwas stutzig, wo diese Abkürzungen und Symbole auf mich doch immer, wenn ich mit Bekannten in Wettbüros gesessen war, um irgendein Spiel zu verfolgen, und auch in den ersten Arbeitstagen, völlig undurchdringlich gewirkt hatten. Jetzt wusste ich ohne zu überlegen, was sie bedeuteten. Ich sah sie kaum an und erkannte sie doch. Ich zweifelte nicht einmal an dem, was ich eingab, und musste keine einzige meiner Bewegungen auf der Tastatur hinterfragen. Die Angst, irgendeinen Fehler zu machen, war verflogen. Ich arbeitete an der zweiten Kasse und bekam am Anfang meiner Schicht zweihundert Euro. Dieser niedrige Betrag enttäuschte mich etwas. Angesichts der Summen, mit denen Georg den ganzen Tag hantierte, konnte ich zweihundert Euro nicht einmal als Geld auffassen. Was sie aber natürlich waren, denn jeder andere hätte die Münzen und die Scheine in meiner Kasse als Geld betrachtet. Für mich war es schlicht und einfach Arbeitsmaterial, wie es für einen Maler und Anstreicher die Farbe und die Wände sind und für einen Maurer die Ziegelsteine. Nur sind Ziegeln greifbar. Die Umgebung begann sich allmählich aufzulösen, mein Körper von innen nach außen zu fließen. Ich bewegte mich widerstandslos im Raum, als wäre ich ein Teil des Tabaksqualms, der unter der eigentlichen Decke knapp über unseren Köpfen eine tiefere geschaffen hatte. Mit unseren Zigaretten hatten wir alle zur Entstehung dieses imaginären Zwischengeschosses beigetragen, und indem dieser Rauch jeden von uns umschloss, machte er uns alle gleich. Wir gingen darin auf, und nur jemand, der in diesen Nebel eintauchte, konnte jene, die sich darin aufhielten, voneinander unterscheiden. Ich begann ihre Sprache zu verstehen, die sie vom Rest der Welt abgrenzte und sie miteinander verschmelzen ließ. Ich selbst sprach inzwischen von Quoten und Rennorten, Trainern und Tieren, Zahlen und Mannschaften, als hätte ich mein Lebtag nichts anderes getan und als hätte es für mich auch nichts anderes als das gegeben. Wenn jemand eine Startnummer und einen Einsatz formulierte, regte sich in meinem Inneren automatisch etwas, das sich meiner Kontrolle entzog. Ich richtete mich auf, rückte meinen Sessel zurecht, setzte meine Finger an die Tastatur, und das alles geschah mechanisch. Ich gehorchte Signalen und Codes, und wenn es einmal nichts gab, worauf ich horchen sollte, wurde mir langweilig und ich blickte gereizt umher, als wäre mit dem Aufkommen der Stille der Sinn aus meinem Leben verschwunden. In jedem, der das Lokal betrat, suchte ich nach dem nächsten Befehl, den ich in das System eingeben konnte, denn sobald man diese Sprache verstand, hatte man auch das Bedürfnis, sie unentwegt anzuwenden. 'Ich großes Arschloch', sagte der Riese mit den klaren Zügen, während er sich an meine Kasse stellte. 'Warum?' 'Vierzig Euro am Tag verdienen und in zwei Stunden zweihundert verlieren. Was ist das?' 'Es ist doch dein Geld.' 'Die ersten Vierzig ja, jetzt spiele ich mit der Kinderbeihilfe', gestand er, um nach einer kurzen Pause fortzufahren: 'Diese zwei Euro setze ich noch auf die Computerpferde. Fünf-drei und eins-acht', bei diesen Worten deutete er auf die Prägung der Münze, bevor er hinzufügte: 'Vielleicht bringt mir der Jesus hier Glück.' Ich berichtigte ihn, dass es sich bei der Abbildung nicht um Jesus, sondern um den Dichter Dante Alighieri handelte.'