Im Bann der Gewalt

Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783886808854
Sprache: Deutsch
Umfang: 400 S., 20 s/w Illustr., mit Abbildungen
Format (T/L/B): 3.7 x 22 x 14.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

»Enzo Traversos Buch ist eine bahnbrechende Neuinterpretation des zwanzigsten Jahrhunderts, die – ähnlich wie nur François Furets 'Das Ende der Illusion' oder Eric Hobsbawms 'Das Zeitalter der Extreme' - noch in Jahren diskutiert werden wird.« Le Monde »Ein anregendes und überaus diskussionswürdiges Buch.« Literarische Welt »Traversos Studie schafft einen Kontext, in dem Faschismus und Widerstand, Heldentum und Angst, Aufklärung und Gewalt so miteinander in Bezug gesetzt werden, dass ein tieferes Verständnis der Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1914 und 1945 möglich wird.« Deutschlandradio Kultur

Autorenportrait

Enzo Traverso, Professor für Politik, wurde 1957 in Gavi, Italien, geboren und lebt seit den 1980er Jahren in Paris. Er unterrichtet an der Universität Amiens und ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Themen Nationalsozialismus, Moderne und Gewalt.

Leseprobe

Einige Bilder des 20. Jahrhunderts haben sich als visuelle Orientierungsmarken in unser Gedächtnis eingeschrieben. Sie wurden zu Ikonen einer Vergangenheit, deren Sinn und Geschmack sie verkörpern. Jeder kennt Andy Warhols Coca-Cola-Flaschen, die verschwommenen Umrisse Neil Armstrongs, als dieser den Mond betrat, oder das vorgetäuschte Glück von Marilyn Monroes Lächeln. Denken wir allerdings an die Jahrzehnte zwischen dem Anfang des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so verdunkelt sich dieses Bild. Man sieht endlose Schützengräben, die Rampe vor dem Lager von Auschwitz-Birkenau im Schnee des polnischen Winters oder den Atompilz von Hiroschima. Das Zeitalter der Extreme hat einen Bildervorrat des Schreckens geschaffen, hinter dem sich eine Welt des Leids, aber auch gemeinsamer gesellschaftlicher Erfahrungen, Kulturen, Ideen und Kämpfe verbirgt, die dieses Buch unter dem Oberbegriff des 'europäischen Bürgerkriegs' untersuchen möchte. Dieser Ausdruck wurde bereits in der Zwischenkriegszeit von zahlreichen Kommentatoren und politischen Denkern benutzt, obgleich ihn erst Ernst Nolte auf systematische - wenn auch durchaus zweifelhafte - Weise behandelte. Ich nehme ihn hier meinerseits wieder auf, um mit seiner Hilfe den Sinn einer Epoche der Kriege und Revolutionen zu erfassen, in der die Symbiose zwischen Kultur, Politik und Gewalt die Mentalitäten, Ideen, Darstellungsweisen und Handlungen ihrer Akteure zutiefst prägte. Diese Arbeit möchte also einige historiographische Kontroversen der letzten Jahrzehnte über die Interpretation des Faschismus, Kommunismus und des Widerstands aufgreifen und neu bewerten, um sie durch eine breitere Perspektive zu ersetzen, in der die untersuchten Kontexte zusammengeführt werden. Sie möchte außerdem dem heute weit verbreiteten Anachronismus, der die Kategorien unserer liberalen Demokratie auf das Europa der Zwischenkriegszeit projiziert, als ob es sich dabei um zeitlose Normen und Werte handeln würde, erneut eine historische Perspektive entgegensetzen. Es besteht gegenwärtig die Tendenz, ein Zeitalter der Kriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen auf die Schrecken des Totalitarismus zu reduzieren. Diese Versuchung ist umso gewagter, als ja gerade der Bürgerkrieg eine Zeit ist, in der diese angeblich überzeitlichen Normen hinfällig werden. Er hat vielmehr seine eigene Logik und 'Gesetze', die für alle 'Kombattanten' gelten, auch und gerade für diejenigen, die zu den Waffen greifen, um gegen den Faschismus und für die Verteidigung oder Wiederherstellung der Demokratie zu kämpfen. Anders ausgedrückt, verfällt man also einem perspektivischen Irrtum, wenn man durch die Brillen von Jürgen Habermas und John Rawls eine Zeit analysieren will, die einen Ernst Jünger und einen Antonio Gramsci, einen Carl Schmitt und einen Leo Trotzki hervorgebracht hat. Erst wenn wir die Demokratie nicht nur als eine Ansammlung von Normen, sondern auch als etwas historisch Gewachsenes betrachten, können wir die entwicklungsgeschichtlichen Bande begreifen, die sie mit dem Zeitalter der Bürgerkriege verbindet. Die Historikerin Annette Wieviorka definierte 1998 unsere Epoche als 'Ära des Zeugen', womit sie die Aufmerksamkeit unterstrich, die man heute den Erzählungen der Akteure der Vergangenheit und hier vor allem der besonderen Kategorie des Opfers entgegenbringt, das im heutigen Wortgebrauch zu einem Synonym für den Zeugen schlechthin geworden sei. Dieser Perspektivwechsel von den 'Helden' zu den 'Opfern' ging mit dem neuen historischen Bewusstsein einher, wonach das 20. Jahrhundert eine 'Zeit der Gewalt' gewesen sei. Auf der Ebene der Geschichtsschreibung führte dieser Wandel dazu, dass die alten positivistischen Forschungsparadigmen, die sich fast nur, wenn nicht sogar ausschließlich auf schriftliche Quellen stützten, auf heilsame Weise in Frage gestellt wurden. Mit dem Aufkommen einer neuartigen 'Oral History' wurden auch das Leben und die subjektiven Erfahrungen und Einstellungen der 'kleinen Leute' untersuc Leseprobe