Beschreibung
Über Jahrzehnte tabuisiert, rückt die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Diktatur erst in jüngster Zeit ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Woran es bislang mangelte, waren überregionale Untersuchungen, die einen Überblick über Alltag und Verfolgung Homosexueller im 'Dritten Reich' geben. Alexander Zinn legt nun eine Studie vor, die eine neue und umfassende Sicht auf dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte ermöglicht. Im Fokus stehen nicht nur das Verfolgungsprogramm der Machthaber, das sich immer weiter radikalisierte, sondern auch die Rolle von Polizei, Justiz und Bevölkerung sowie - nicht zuletzt - die der Betroffenen selbst. Mit überraschenden Ergebnissen: So klafften Anspruch und Wirklichkeit der Verfolgungspolitik oft eklatant auseinander. Denn nicht immer erwiesen sich die Behörden als die 'willigen Vollstrecker', als die man sie heute meist sieht. Und auch die Bevölkerung arbeitete dem Verfolgungsapparat in weit geringerem Maße zu, als bislang oft unterstellt.
Autorenportrait
Alexander Zinn, Dr. phil., ist Soziologe und Historiker.
Leseprobe
Vorwort Über Jahrzehnte tabuisiert, rückt die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung erst seit den neunziger Jahren ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Auch die historische Forschung tat sich lange schwer mit dem Thema. Inzwischen liegt zwar eine ganze Reihe von Detail- und Regionalstudien vor, insbesondere zur Situation in einigen Großstädten. Woran es jedoch mangelt, sind überregionale Untersuchungen, die einen Überblick über Alltag und Verfolgung Homosexueller im "Dritten Reich" geben. Mit diesem Buch wird das Thema nun neu und umfassend in den Blick genommen. Im Fokus steht dabei nicht nur die Verfolgungspolitik der Machthaber, die sich in den Jahren der NS-Herrschaft immer weiter radikalisierte, sondern auch die Rolle von Polizei, Justiz und Bevölkerung sowie - nicht zuletzt - die der Betroffenen selbst. Konzentrierte sich die Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung bislang auf das wahnwitzige Verfolgungsprogramm der Gestapo und dessen Opfer, so nimmt diese Studie verstärkt die Probleme in den Blick, die es bei der praktischen Umsetzung gab und fragt nach den Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Mit welchem Elan setzten Polizei- und Justizbehörden den 1935 verschärften § 175 des Strafgesetzbuches durch, der die "Unzucht" unter Männern mit Gefängnis bedrohte? Wie viele Homosexuelle gerieten in das Visier der Verfolgungsbehörden und wie hoch war der Anteil derjenigen, die sich einer Bestrafung entziehen konnten? Wie reagierte die Bevölkerung und welche Spielräume gab es - trotz alledem - für homosexuelles Leben? Die Untersuchung kommt zu teilweise überraschenden Ergebnissen: Anders als gemeinhin angenommen, klafften Anspruch und Wirklichkeit der Verfolgungspolitik oft eklatant auseinander. Die radikale Rhetorik, mit der SS und Gestapo versuchten, den Verfolgungseifer anzuheizen, täuscht leicht darüber hinweg, dass es in der Praxis massive Probleme gab. Denn nicht immer erwiesen sich die regulären Polizei- und Justizbehörden als die willigen Vollstrecker, als die man sie heute oft wahrnimmt. Und auch die Bevölkerung arbeitete dem Verfolgungsapparat keineswegs in dem Maße zu, wie es bislang meist unterstellt wurde. Diese Studie soll dazu beitragen, eine differenziertere Perspektive auf die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung zu gewinnen. Dazu gehört auch eine kritische Betrachtung der Überschneidungen von NS-Bewegung und Homosexuellenszene. Dass sich SS-Chef Heinrich Himmler mit der von ihm konzipierten Verfolgungspolitik durchsetzen konnte, war kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis eines harten Machtkampfes, der im Juli 1934 in der Ermordung des homosexuellen SA-Stabschefs Ernst Röhm gipfelte. Die Verschwörungstheorie einer Unterwanderung des NS-Staates durch Homosexuelle, mit der die Verfolgung gerechtfertigt wurde, ist ohne dieses Vorspiel ebenso wenig verständlich wie der daraus resultierende Verfolgungseifer Himmlers und der Gestapo. Alexander Zinn, Berlin im März 2018 1. Einführung 1.1 Überblick über den Forschungsstand Die nationalsozialistische Verfolgung homosexueller Männer ist, im Gegensatz zur Geschichte vieler anderer Verfolgtengruppen, auch siebzig Jahre nach der Befreiung nur lückenhaft erforscht. Die Ursachen dafür sind vielfältig. In den ersten drei Jahrzehnten bestand allein schon auf-grund der fortgesetzten Kriminalisierung und Stigmatisierung Homosexueller kaum ein Interesse an einer historischen Aufarbeitung. In der Bundesrepublik wurden die Paragrafen 175 und 175a des Strafgesetzbuches in der von den Nationalsozialisten 1935 geschaffenen Fassung noch bis 1969 angewandt. Eine Anerkennung als Verfolgte blieb den Homosexuellen ebenso versagt wie eine angemessene Entschädigung. Und auch in der DDR, in der der § 175 bis 1968 in der etwas milderen Weimarer Fassung weiter bestand, verweigerte man den "Rosa-Winkel-Häftlingen" die Anerkennung als "Opfer des Faschismus". Unter diesen Rahmenbedingungen konnten und wollten die meisten Verfolgten über ihr Schicksal keine Auskunft geben. Die historische Aufarbeitung scheiterte jedoch nicht nur an einem Mangel an biografischen Quellen. Erschwert wurde sie auch dadurch, dass wichtige amtliche Quellen vernichtet wurden. Ein Teil wurde von der SS verbrannt, ein Teil ging durch Kriegseinwirkung verloren und auch in der Nachkriegszeit wurden viele relevante Dokumente durch die Staatsanwaltschaften vernichtet oder durch Archive "kassiert". In der etablierten Geschichtswissenschaft zeigten sich aber auch große Berührungsängste gegenüber dem Thema. Lange Zeit wurde es weitgehend tabuisiert. Wenn Homosexualität eine Rolle spielte, dann lediglich bei den Ereignissen, bei denen sie den Nationalsozialisten dazu diente, die Verfolgung (vermeintlicher) Gegner zu begründen: beim "Röhm-Putsch" 1934, beim Kampf gegen die bündische Jugend und bei den Sittlichkeitsprozessen gegen katholische Ordensangehörige. Wie auch bei der Absetzung des Generalobersten von Fritsch etablierte sich die Sichtweise, der Vorwurf der Homosexualität sei lediglich als ein "Vorwand" genutzt worden, um politische Gegner auszuschalten - ein hartnäckiges Paradigma, das lange den Blick auf die breit angelegte Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten verstellte. Dass die NS-Führung in der Homosexualität, wie es der Gestapo-Mitarbeiter Gerhard Kanthack 1935 formulierte, eine "Staatsgefahr mindestens vom gleichen Umfange wie der Kommunismus" gesehen haben könnte, wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Bis Mitte der siebziger Jahre war die Homosexuellenverfolgung für die Geschichtswissenschaft kein ernstzunehmender Gegenstand. Und auch danach waren es nur einige wenige Wissenschaftler, vor allem aber die "Betroffenen" selbst, Vertreter der neuen deutschen Schwulenbewegung, die die historische Aufarbeitung vorantrieben. Bernd Hergemöllers Ein-schätzung aus dem Jahr 1999, die "deutschsprachige Historiographie" sei "noch weit davon entfernt, das Thema Homosexualitäten als gleichberechtigten und notwendigen Bestandteil des Wissenschaftskanons wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu institutionalisieren", kann trotz einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren auch heute noch Gültigkeit beanspruchen. Als Standardwerk zum Thema gilt nach wie vor der von Rüdiger Lautmann 1977 veröffentlichte, gerade einmal 40 Druckseiten umfassende Beitrag zum "rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern". Tatsächlich war Lautmanns Untersuchung bahnbrechend, hatten er und seine Forscherkollegen doch erstmals Zugang zum Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen bekommen und die dortigen Akten stichprobenartig auswerten können. Auf dieser Basis konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Dennoch blieben Lautmanns Ergebnisse teilweise recht vage. Die Schätzung von 10.000 Rosa-Winkel-Häftlingen ist mit einem großen Unsicherheitsfaktor verknüpft, denn nach Lautmann könnten es ebenso "5.000, aber auch an die 15.000 gewesen sein". Es sagt viel über den Forschungsstand zur NS-Homosexuellenverfolgung, dass diese grobe Schätzung bislang nicht weiter präzisiert werden konnte und als das einzig seriöse Ergebnis gilt. Seit Lautmanns Studie ist eine ganze Reihe von Publikationen zu diversen Aspekten der NS-Homosexuellenverfolgung erschienen. Viele Studenten und Doktoranden haben an dem Thema gearbeitet. Ganz erheblich haben auch Geschichtsinitiativen, die aus der Schwulenbewegung entstanden sind, so zum Beispiel das Schwule Museum in Berlin, zur Aufarbeitung beigetragen. Nicht alle Publikationen genügen jedoch wissenschaftlichen Anforderungen. Der dürftige Forschungsstand führte mitunter auch zu starken Übertreibungen. In den siebziger und frühen achtziger Jahren wurde in einigen Büchern die hanebüchene Legende von einem schwulen "Homocaust" mit hunderttausenden KZ-Opfern verbreitet. Einige der Publikationen zur Situation lesbischer Frauen kolportierten die nicht zu belegende Legende über lesbische Frauen als Verfolgtengruppe in NS-Konzentrationslagern. Die bislang einzige seriöse...