Beschreibung
Antisemitismus ist in Deutschland ein beständiges Problem. Von der Öffentlichkeit verpönt, bestehen Ressentiments gegen Juden etwa in verkürzter Kapitalismuskritik oder in der radikalen Ablehnung des Staates Israel. Mit der zunehmenden Einwanderung nach Deutschland verschärft sich diese Konstellation: In der migrationsfeindlichen Abwehr gegen fremd gemachte Andere wird der Antisemitismus derer, die sich zu einer national definierten Mehrheitsgesellschaft zählen, oft den angeblich Fremden zugeschrieben. Der Band fragt, wie Bildungsarbeit auf diese Entwicklung reagieren kann.
Autorenportrait
Meron Mendel ist Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Astrid Messerschmidt ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Wuppertal.
Leseprobe
Grußwort Andreas Eberhardt Wir leben in herausfordernden Zeiten. In gesellschaftlichen Debatten, in Talkshows, auf Schulhöfen, selbst in politischen Diskursen sind wieder Töne zu hören, die wir längst überwunden glaubten. Antisemitismus, in der Bundesrepublik lange Zeit nur verdeckt zutage getreten, äußert sich in alten und neuen Formen. Die Tagungsreihe Blickwinkel und der daraus hervorgegangene vorliegende Sammelband "Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft" zeigt Beispiele zum Aufbau kluger Gegenstrategien auf: Durch die Tagungsreihe werden Räume für Austausch und Vernetzung geboten, hier können Bildungsansätze diskutiert und Ideen weiterentwickelt werden. Die Tagungsreihe stellte von 2011 bis 2017, bei den bisherigen acht Tagungen in Berlin, Frankfurt/Main, Jena, Kassel, Köln und Nürnberg, sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Bildungsexpertinnen und -experten als auch Pädagoginnen und Pädagogen, Akteurinnen und Akteuren aus Stadtteilarbeit, Mediation und Beratung einen kontinuierlichen Rahmen für fachlichen und kollegialen Austausch bereit. Die praxisgesättigte Multiperspektivität wurde stetig erweitert durch einen Blick über die deutschen Debatten hinaus auf internationale Diskurse und Entwicklungen. Die Blickwinkel von Wissenschaft und Praxis trafen aufeinander: Einsichten aus der Wissenschaft wurden in ihrer Bedeutung für die Praxis diskutiert und umgekehrt der Beitrag der bildungspraktischen Arbeit für die akademische Forschung erörtert. Alle Tagungsberichte und mehr stehen auf der Webseite der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) zur Verfügung. Der vorliegende Band vereint ausgewählte Beiträge der Blickwinkeltagungen 2014 bis 2016. Diverse Themenfelder aus den Tagungen "Antisemitismus und Rassismus: Verflechtungen?" (2014), "Religion: Diskurse - Reflexionen - Bildungsansätze" (2015) und "Kommunikation: Latenzen - Projektionen - Handlungsfelder" (2016) werden hier miteinander in Beziehung gesetzt. So wird ein adäquates Problemverständnis von Antisemitismus als eigenständiges Phänomen in Bildung und Intervention darzustellen versucht, dessen Entwicklung gleichwohl in verschiedenen diskriminierenden und exkludierenden Kontexten geschieht. Das Buch reagiert auf eine tagespolitisch aktuelle Problemkonstellation: die Vermittlung antisemitismuskritischer Werte in der Migrationsgesellschaft. Es werden Fragen nach der Dynamik zwischen dem öffentlichen antisemitismuskritischen Konsens im postnationalistischen Deutschland und dem Weiterbestehen von privaten oder strukturellen antisemitischen Ressentiments erörtert. Ebenso wird den Wechselwirkungen, die heute zwischen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland bestehen, und der Gefahr der Projektion des fortwährenden Antisemitismus in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft auf die Minderheit der nach Deutschland Migrierten nachgegangen. Ein wichtiges Element von gesamtgesellschaftlichem Zusammenhalt ist ein verbindendes historisches Narrativ als einer gemeinsamen Erzählung, die Raum für individuelle Geschichten und Erfahrungen lässt. Eine Erzählung, die integrativ ist, die die Möglichkeit des Einwebens individueller Erfahrungen und ethnischer, religiöser, geschlechtsbasierter und weiterer Identitäten ermöglicht. Daher fragt dieser Sammelband auch, wie sich die erinnerungspolitische Debatte und das Gedenken an den Holocaust in der Migrationsgesellschaft weiter stärken lässt. Eine zeitgemäße Erinnerungskultur in einer immer diverser werdenden Gesellschaft bedeutet die Befassung mit einem Hauptnarrativ, das für die bundesdeutsche Gesellschaft nicht nur wesentlicher Teil ihrer kollektiven Identität ist, sondern vielfach ihre heutige Ausformung sehr direkt bestimmt hat und auch weiter bestimmen wird. Es braucht zudem den Austausch vielfältiger kollektiver Erzählungen und Erinnerungen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Diese Erzählungen und Erinnerungen sind manchmal harmonisch, oftmals aber auch konkurrierend und nicht selten konflikthaft. Aber aus ihrer Kenntnis und der Auseinandersetzung mit ihnen wächst ein gemeinsames Ganzes. Den Herausgeberinnen und Herausgebern, allen beteiligten Autorinnen und Autoren, den ehemaligen wie aktuellen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern, der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, der Bildungsstätte Anne Frank, dem Zentrum für Antisemitismusforschung sowie dem Fritz Bauer Institut gilt ein herzlicher Dank. Die vorliegende Publikation soll eine Quelle der Inspiration und ein Türöffner in neue Denkräume sein. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Andreas Eberhardt Vorstandsvorsitzender der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ) Einleitung Meron Mendel und Astrid Messerschmidt Fast jede Auseinandersetzung mit Antisemitismus geht den Umweg einer Ausschließung. Antisemitismus gilt in der deutschen Gegenwart als unmöglich, seine Artikulation als abwegig, weil sie einen gesellschaftlichen Konsens verletzt. Antisemitismus transportiert die Aura des Verbots, das gar nicht ausgesprochen werden muss, um den Konsens der Distanzierung zu reproduzieren. Theodor W. Adorno (1977 [1962]) bezeichnete es als einen "wesentlichen Trick von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen" (ebd.: 363), sich zu gebärden, als würde die öffentliche Meinung antisemitische Äußerungen unmöglich machen. Das Gerücht, das indirekte Adressieren, "die nicht ganz offen zutage liegende Meinung war von jeher das Medium, in dem soziale Unzufriedenheiten der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ordnung sich nicht ans Licht trauen, sich regen" (ebd.). Die gegenwärtige Reserviertheit gegenüber der Demokratie und ihren Medien, wie sie in rechtspopulistischen Bewegungen geäußert wird, die sich selbst "das Volk" nennen, basiert auf einer Selbststilisierung als Opfer einer übermächtigen Instanz, die "Wahrheiten" unterdrückt. Dabei ist die Selbstbezeichnung als "Volk" nationalistisch repräsentiert - sie wurde in der deutschen Geschichte im Herbst 1989 nur sehr kurz von einer basisdemokratischen Bewegung für sich reklamiert, bevor sie sehr schnell wieder als nationale Gemeinschaft beansprucht worden ist. Die imaginierte Macht, die dieses stilisierte Volk unterdrückt, kann verschieden identifiziert werden. Zur Verfügung steht vor dem Hintergrund einer langen Geschichte der Abgrenzung und Ausgrenzung, des Fremdmachens und des Vernichtungswunsches die projektive Figur des Juden. Als Merkmale des modernen Antisemitismus fasst Klaus Holz die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie eine Personifikation von Macht in den Juden. Nach wie vor bildet ein nationalistisches Weltbild die Leitideologie des Antisemitismus, weshalb Holz (2001) vom "nationalen Antisemitismus" spricht. Jede national-identitäre Besetzung des gesellschaftlichen Innenraums erinnert an die politische Grundierung des Antisemitismus und sollte entsprechend ernst genommen und eingeordnet werden. Adorno plädiert 1962 für eine radikale Argumentation gegen Antisemitismus, indem er sich gegen jede abstammungsbezogene, identifizierende Betrachtung von "Bevölkerungsgruppen" wendet, weil das in der Demokratie "das Prinzip der Gleichheit verletzt" (Adorno 1977 [1962]: 363). Antisemitismusanalyse bietet den systematischen Rahmen, um die Struktur dieser Verletzung nachzuzeichnen, zu ergründen und ihre Aktualität in der Gegenwart zu erkennen. Im Kontext der Migrationsgesellschaft wird das von Adorno postulierte und von jeder Demokratie beanspruchte Prinzip der Gleichheit verletzt, wenn aus der Gesellschaft der Gleichen Gruppen identifizierend ausgesondert werden, um sie als Nichtzugehörige zu positionieren. So impliziert etwa die bis heute geläufige Dichotomisierung zwischen "Juden" und "Deutschen", dass erstere aus der Gruppe der letzteren ausgeschlossen werden und als nicht-deutsch gelten. Zu beobachten sind derartige Verletzungen des Gleichheitsprinzips gegenwärtig auch in den ausgrenzenden S...