Bildungswege

Biographien zwischen Teilhabe und Ausgrenzung, Biographie- und Lebensweltforschung 13

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593506326
Sprache: Deutsch
Umfang: 388 S.
Format (T/L/B): 2.3 x 21.3 x 13.9 cm
Auflage: 1. Auflage 2016
Einband: Paperback

Beschreibung

In demokratischen Gesellschaften hat das Bildungssystem den Auftrag, soziale Ungleichheit zu kompensieren und gleiche Teilhabechancen zu ermöglichen. Empirische Forschungen belegen jedoch, dass Ungleichheitsstrukturen durch das Bildungssystem reproduziert werden. Dieser Band untersucht das Spannungsfeld zwischen Ausgrenzung und Teilhabe aus biographiewissenschaftlicher Perspektive.

Autorenportrait

Bettina Dausien ist Professorin für Pädagogik der Lebensalter an der Universität Wien. Daniela Rothe ist Professorin für Erwachsenen- und Berufsbildung an der Universität Klagenfurt. Dorothee Schwendowius ist Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Flensburg.

Leseprobe

Einleitung Bettina Dausien, Daniela Rothe und Dorothee Schwendowius Prozesse sozialer Ausgrenzung und gesellschaftliche Ungleichheiten werden in den Sozial- und Bildungswissenschaften seit einigen Jahren wieder verstärkt thematisiert. Anlass dafür sind die sichtbaren Verwerfungen gesellschaftlicher Modernisierung wie die steigende Zahl der Langzeitarbeitslosen, die "Rückkehr der Armut" (z.B. Bude 2010; Butterwegge 2012; Neckel 2013; Mau/Schöneck 2015) und die Zuspitzung gesellschaftlicher Verteilungskonflikte sowie neue Formen von Migration, Grenzverschiebungen, Flucht und kriegerische Konflikte, die mitten in Europa virulent sind. Diese Prozesse betreffen nicht nur Strukturen und Politiken auf der Makro- und Mesoebene der Gesellschaft, sie wirken auch in die alltäglichen Lebensverhältnisse, in die biographischen Erfahrungs- und Handlungsräume der Individuen hinein und werfen die Frage nach den Bedingungen für gesellschaftliche Teilhabe auf. In der Erziehungswissenschaft wird diese Frage vor allem mit Blick auf das Bildungssystem diskutiert. Dieses ist in modernen Gesellschaften in doppelter Weise an der Ermöglichung und Begrenzung sozialer Teilhabe beteiligt. Einerseits trägt es dazu bei, den Individuen kulturelle Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, die notwendig sind bzw. gesellschaftlich als notwendig erachtet werden, um an den komplexen sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen, in denen wir leben, teilhaben und diese mitgestalten zu können. Andererseits ist Bildung als gesellschaftliches Teilsystem, das historisch und funktional eng an nationalstaatliche Interessen und Ordnungen gebunden ist, seinerseits an der Definition und Institutionalisierung von Teilhabebedingungen beteiligt. Über die Vergabe von Bildungszertifikaten wird der Zugang zu unterschiedlichen beruflichen Positionen ermöglicht oder verschlossen und damit die Positionierung der Subjekte im sozialen Raum wesentlich vorstrukturiert. Bildungssoziologische und erziehungswissenschaftliche Forschungen haben nun vielfach gezeigt, dass diese Vergabe von Bildungschancen nicht nach meritokratischen Prinzipien erfolgt und auch das Versprechen der Chancengleichheit, die soziale Ungleichheiten kompensieren, wenn nicht gar beseitigen soll, keineswegs eingelöst ist (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Becker/Solga 2012). Die Bildungsinstitutionen sind - offen, vor allem aber vielfach verdeckt - von gesellschaftlichen Differenzkonstruktionen und Machtverhältnissen durchzogen und reproduzieren sie zugleich. Im historischen Rückblick wird sichtbar, dass die Geschichte des Schulsystems aufs engste mit gesellschaftlichen Selektions- und Allokationsfunktionen verbunden ist und die Demokratisierung von Bildungszugängen in der bürgerlichen Gesellschaft noch lange an Klassen- und Geschlechtergrenzen scheitert (vgl. z.B. Friedeburg 1989). Auch in der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gesellschaft, fünfzig Jahre nach der Bildungsreform, sind offene und subtile Mechanismen der Produktion von Ungleichheit im Bildungssystem noch immer wirksam, wobei unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft neue soziale Teilungsstrukturen hinzugekommen sind. Im Interesse, die Wirkungsweise von Ungleichheit im und durch das Bil-dungssystem genauer zu verstehen, haben empirische Studien beispielsweise die hierarchische Logik der Anerkennung unterschiedlicher lebensweltlicher Zugänge zu Bildung (vgl. z.B. Helsper u.a. 2009; Wiezorek/Grundmann 2013) oder institutionelle Normen, Regelungen und professionelle Handlungsroutinen herausgearbeitet, die zu Benachteiligungen und Ausschlüssen führen (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Dirim/Mecheril 2010; Leeman u.a. 2016), und auch Prozesse auf der Mikroebene gezielt untersucht (vgl. Siebholz u.a. 2013). In Abwandlung einer Charakterisierung, die Pierre Bourdieu (vgl. 1987: 98) für sein Konzept des "Habitus" entwickelt hat, könnten auch Bildungsinstitutionen als "strukturierte und strukturierende Strukturen" bezeichnet werden. Sie bilden ein produktives soziales Feld, das von gesellschaftlichen Macht- und Teilungsstrukturen präfiguriert ist, und sie sind ihrerseits auf vielfältige Weise aktiv an der ungleichen Verteilung von Teilhabechancen und an massiven Ausgrenzungsprozessen beteiligt. Damit entfaltet das Bildungssystem eine langfristige Wirkung, die über die aktuellen Leistungen, Erfolge, Entscheidungen etc. in der Bildungsinstitution hinausreichen und Biographien nachhaltig prägen. Insbesondere die Schule trägt dazu bei, dass Lebenswege sich langfristig in den gesellschaftlich vorstrukturierten Bahnen und Grenzen der dominanten Ungleichheitsverhältnisse - Klasse, Geschlecht, migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen - bewegen und dass diese damit zugleich reproduziert werden. Dieser Befund gilt auch dann noch, wenn auf der Ebene individueller Biographien solche Grenzen überschritten werden - ein Phänomen, das im Alltagsdenken wie in der professionellen pädagogischen Praxis, in den Schulen und Universitäten die meritokratische Ideologie bestätigt und am Leben hält. Andererseits sind Bildungsaufstiege und "untypische" Bildungsbiographien keine Ausnahmen von der Regel im statistischen Sinn, sondern vielmehr Indizien dafür, dass die Reproduktion sozialer Ungleichheit keineswegs vollständig und lückenlos und, das heißt, auch nicht reibungslos funktioniert. Individuen wie Bildungsinstitutionen haben durchaus Spielräume der eigensinnigen Gestaltung von Bildungsprozessen und für die Aushandlung (der Bedingungen) sozialer Teilhabe. In einer geradezu paradoxen Spannung zu den skizzierten Einschätzungen steht der emanzipatorische Aspekt von Bildung als Befreiung aus gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Er ist gewissermaßen als Stachel dem Bildungssystem und der pädagogischen Praxis historisch eingeschrieben und bildet ein produktives Potenzial für Irritation, Widerspruch und Widerstand. Dieses Potenzial findet sich auch im gesellschaftlichen Auftrag des Bildungssystems, soziale Ungleichheiten aufzuklären, sie zu bearbeiten, abzubauen und zu einer gerechteren Verteilung von Lebenschancen beizutragen. Hier ist an aktuelle bildungspolitische Maßnahmen zu erinnern wie die Einführung der Ganztagsschule oder an Konzepte diskriminierungskritischer, inklusiver Un-terrichts- und Schulentwicklung. Auch das Beispiel der Geschlechterdiffe-renz(-konstruktion) im Bildungssystem zeigt, dass soziale Veränderungen durchaus möglich sind. Zumindest im Bereich der Schule und in vielen Sektoren der Hochschule haben Frauen den Zugang zu Bildung erreicht. Die Bildungsbeteiligung und die formalen Bildungsergebnisse im Vergleich der Geschlechterklassen sind weitgehend nivelliert, auch wenn sie keineswegs aufgehoben sind, sondern - in noch nicht ausreichend analysierter Verschränkung mit der "traditionellen" Ungleichheitsdimension Klassenlage und den zunehmend bedeutsam gewordenen "neuen" Ungleichheitsdimensionen, die sich als "natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten" (Mecheril 2003) im Kontext der Migrationsgesellschaft entfalten - durchaus weiter wirken. Dass mit den Bildungsabschlüssen der Zugang zu beruflichen Positionen und gesellschaftlicher Platzierung allerdings noch keineswegs "gleichberechtigt" gesichert ist, verdeutlicht im Übrigen, dass das Bildungssystem die soziale Positionierung der Individuen nicht determiniert, sondern durchaus widersprüchlich mit anderen gesellschaftlichen Systemen verkoppelt ist. Schließlich gibt es auch auf der Ebene individueller Biographien Eviden-zen für Handlungsspielräume und Möglichkeiten der Veränderung - etwa dafür, dass das Bildungssystem prekäre Lebenslagen mindestens abfedern und einen sozialen Rahmen bieten kann, der Subjekten soziale Teilhabe, Zugehörigkeit und eine biographische Zukunftsperspektive ermöglicht, zum Beispiel wenn sie aus anderen gesellschaftlichen Systemen, insbesondere dem Arbeitsmarkt, "herausgefallen" sind; oder dafür, dass Biographien gegen die jeweiligen sozialen Erwartungsstrukturen verlaufen...