Beschreibung
Die von Deutschen im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen wären nicht möglich gewesen ohne die Existenz eines Geflechts von geteilten ethischen Überzeugungen. "Dichte" Begriffe wie "Arbeit", "Volk" oder "Gemeinschaft" sind Knotenpunkte dieses gedanklichen Gebildes. In den Beiträgen dieses Bandes geht es nicht nur darum, nationalsozialistische Normativität historisch darzustellen. Vielmehr werden auch Vorschläge zur Analyse dieser Begriffe gemacht. Ein wesentlicher Teil dieses Bemühens ist die Untersuchung von Ethiken nationalsozialistisch orientierter Philosophen.
Autorenportrait
Apl. Prof. Dr. Werner Konitzer ist kommissarischer Direktor des Fritz Bauer Instituts. David Palme hat in Marburg und Frankfurt am Main Philosophie und Geschichte studiert; er arbeitet zum Themenbereich Moral und Nationalsozialismus.
Leseprobe
Vorwort Die Grundlage für das vorliegende Jahrbuch bildete die Konferenz "NS-Moral: Eine vorläufige Bilanz", die vom 16. bis 19. September 2015 im Martin-Niemöller-Haus in Arnoldshain stattfand. Als wir Anfang desselben Jahres zu der Konferenz einluden, rechneten wir nicht damit, am Ende ein so dichtes Programm präsentieren zu können. Wir beschlossen, die Diskussion über nationalsozialistische Ethiken zum Schwerpunkt der Konferenz zu machen. Denn die Betrachtung der von Nationalsozialisten verfassten Ethiken, ein nach unserer Meinung für das Forschungsprojekt sehr wichtiger Aspekt, war bis dahin noch weitgehend unberücksichtigt geblieben. Angesichts der überraschenden Breite der Beiträge sahen wir uns auf der Konferenz allerdings nicht in der Lage zu einer - auch nur vorläufigen - Bilanz der Diskussion. Mit diesem Jahrbuch möchten wir nun nicht etwa nachträglich einen Schlussstrich ziehen, sondern hoffen, die Diskussion damit erneut entfachen und verbreitern zu können. Alle Beiträge, mit Ausnahme des Artikels von Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky, basieren auf Vorträgen, die auf der Konferenz gehalten wurden. Den Kern der hier zusammengestellten Studien bilden die Untersuchungen zu den Ethiken einiger mehr oder weniger deutlich nationalsozialistisch orientierter Philosophen. So diskutiert Johannes Steizinger die Ethik von Alfred Baeumler, Johanna Bach die von Bruno Bauch, David Palme die von August Faust, und Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky setzen sich mit den Schriften von Nicolai Hartmann auseinander. Bei allen vier untersuchten Autoren handelt es sich dem Selbstverständnis nach um Moralphilosophen. Johannes Steizinger stellt das umfassende Werk des Philosophen und Pädagogen Alfred Baeumler dar, der als einer der wichtigsten Intellektuellen des "Dritten Reichs" gelten kann. Unter Rückgriff auf Foucault versucht Steizinger zu zeigen, wie Wissenschaftlichkeit und Reflexion in und durch Baeumlers Denken verdrängt werden. Die Suche nach Wahrheit lasse sich nämlich laut Baeumler nur parteiisch betreiben, das heißt abhängig vom historischen, kulturellen und "rassischen" Standpunkt. Jeder Universalität werde so eine Absage erteilt. Die Nähe von Parteiideologie und akademischer Philosophie wird auch in Johanna Bachs Beitrag über das Narrativ "sittlicher Arbeit" deutlich. Statt sich jedoch einer Person zu widmen, die beides in sich vereint, zeigt sie die Parallelen zwischen dem Stellenwert von "Arbeit" für die Moralphilosophie, etwa des Neukantianers Bruno Bauch, und den Reden und Schriften Adolf Hitlers. Arbeit, darin stimmen Bauch und Hitler überein, sei die deutscheste und ethischste Tätigkeit, bei der die Wirklichkeit nach Wertmaßstäben gestaltet werde. Ein anderes Schlaglicht wirft David Palmes Untersuchung zur Philosophie August Fausts auf die NS-Moral. Faust forderte eine "radikale Freiheit der Selbstbehauptung", welche Palme in den Zusammenhang einer "Krise der Moral" stellt. Diese Krise habe sich seit der Aufklärung entwickelt, und der Nationalsozialismus könne als Antwort darauf verstanden werden. Die drei behandelten Autoren verstanden sich selbst eindeutig als Nationalsozialisten. Anders verhält sich dies bei Nicolai Hartmann. Entsprechend widmen sich Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky ausführlich der kontroversen Frage nach seiner Einordnung und gehen den Gründen dafür nach, warum ausgerechnet Hartmann 1934 den ersten philosophischen Kongress nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten eröffnete. Weitere Einzelbetrachtungen, wenn auch nicht direkt zu Ethiken, liefern Emanuel Kapfinger und Steffen Kluck. Kapfinger unternimmt anhand von Martin Heideggers Sein und Zeit eine Analyse der nationalsozialistischen Subjektivität. Dabei wendet er sich gegen die Ansicht von Emmanuel Faye, dass Heidegger kein (moral-)philosophisches Projekt verfolge. Heidegger, so Kapfinger, fordere in Sein und Zeit eine spezifische Form der Selbstaufgabe des Individuums, die sich durchaus als moralischer Imperativ verstehen lasse. Mit den normativen Aspekten im Verhältnis von Individuum, Person und Gemeinschaft beschäftigt sich auch Steffen Kluck in seinem Beitrag über "Transpersonalismus". Im Fokus steht dabei der neuhegelianische Rechtsphilosoph Julius Binder und seine Kritik am Rechtspositivismus. Unter "Transpersonalismus" ist die Forderung nach einer Auflösung des Einzelnen in der Gemeinschaft des Staates zu verstehen, ohne dass der Einzelne sich einfach unterwirft. Kluck sieht den Nationalsozialismus als gescheiterten Versuch an, eine solche Auflösung zu realisieren. Rastko Jovanov setzt sich in seinem Artikel zur "Rechtserneuerung im Nationalsozialismus" ebenfalls mit dem nationalsozialistischen Neuhegelianismus auseinander. Er untersucht, wie die Bedeutung des "Volks" für den Staat in der Interpretation der Hegel'schen Rechtsphilosophie durch Julius Binder und Karl Larenz überhöht wird. Das "Volk" tritt hier an die Stelle der "Freiheit" und wird so zur Recht legitimierenden Autorität. Jovanov hält dies zwar für eine Fehlinterpretation Hegels, merkt aber gleichzeitig an, dass sich von einem rein hegelianischen Standpunkt kaum etwas dagegenhalten lasse. Eher allgemeinen Charakter haben die Beiträge von Volker Böhnigk, Johann Chapoutot und Werner Konitzer. Chapoutot versucht einen Überblick über die Gesamtgestalt der NS-Normativität zu geben und fasst diese unter anderem in den Imperativen "Kinder zeugen, kämpfen und herrschen" zusammen. Er stützt sich dabei nicht nur auf philosophische Texte, sondern auch auf Alltagsbeschreibungen und Biographien. Der Nationalsozialismus verstand sich nach Chapoutot als Kulturkritik im Namen einer vermeintlichen Natur, der es wieder zu ihrem Recht zu verhelfen gelte. Werner Konitzer zeigt in seinem Beitrag über frühe Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischer Ethik, dass die Geschichte der Diskussion über nationalsozialistische Moral nicht von der Wirkungsgeschichte des Holocaust abzutrennen ist. Volker Böhnigk fragt nach der Beziehung zwischen Relativismus und Nationalsozialismus. Er zweifelt die geläufige Behauptung an, dass es sich beim Nationalsozialismus um einen moralischen Relativismus handle, der im Gegensatz zum aufklärerischen Universalismus stehe. Böhnigk behandelt dies vor allem in Bezug auf den nationalsozialistischen Begriff der "Rasse". Zwar war es unsere Absicht, auf der Konferenz die oben beschriebene philosophische Perspektive auf die NS-Moral zu diskutieren, wir wollten aber den Zusammenhang mit der historisch-faktischen Bewegung des Nationalsozialismus nicht ausblenden. Deshalb haben wir auch Beiträge aufgenommen, die über die Diskussion der Ethiken hinausgehen. So fragt Christian Dries, ob Hannah Arendts Beschreibung von Adolf Eichmann als "unfähig zu denken" auch vor dem Hintergrund der neueren Täterforschung und der Ansätze zur NS-Moral noch Gültigkeit beanspruchen kann. Am Beispiel von Hans Frank, dem Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, versucht Dries zu zeigen, dass Nationalsozialisten sehr wohl des Denkens fähig waren. Dabei berührt er das Problem, dass NS-Täter bis heute oft entweder als bloße "Rädchen im Getriebe" oder als irrationale Fanatiker gesehen werden. Auf problematische Bilder des Nationalsozialismus weist auch Ljiljana Radoni? hin. Sie schreibt über die Widersprüche sowohl in der Rezeption als auch in der Selbstdarstellung des "Dritten Reichs", was das Geschlechterverhältnis und die Sexualität im Nationalsozialismus angeht. So lässt sich das NS-Frauenbild keineswegs auf die keusche Mutter reduzieren. Im Gegenteil bedeutete der Nationalsozialismus für viele deutsche Frauen eine sexuelle und soziale Befreiung, die mit dem Kriegsende zunächst wieder zurückgenommen wurde. Diese Rückkehr zur alten Sexual"moral" war in gewisser Weise ein expliziter Bruch der Nachkriegsgesellschaft mit dem Nationalsozialismus. Nikolas Lelle zeigt in seinem Beitrag über Reinhard Höhn und dessen Managementprogramm, das sogenannte "Harzburger Mod...