Beschreibung
Im Ersten Weltkrieg suchten die westlichen Demokratien ihre liberalen Errungenschaften gegen die Mittelmächte zu verteidigen. Der Krieg wurde jedoch zur elementaren Zäsur für das 20. Jahrhundert und wies voraus auf spätere totalitäre Gewaltexzesse. Die Autorinnen und Autoren beleuchten die vielfältigen Verwerfungen im Zeitraum von 1900 bis 1930: die politisch-räumliche und ethnische Neuordnung Europas, die daraus resultierenden gesellschaftlichen Umwälzungen auch über Europas Grenzen hinaus und die Neumodellierung von Identitäten. Denn die Schlachtfelder des "Großen Krieges" gerieten zu Geburtsstätten "neuer Menschen" - von Pazifisten wie emanzipierten Frauen, Bolschewisten wie Faschisten. Man erwartete nichts weniger als eine radikal umgestaltete Gesellschaft und einen historischen Zeitenbruch.
Autorenportrait
Michael Geyer ist Professor für Geschichte an der Universität Chicago. Helmut Lethen, Prof. em. Dr. phil., ist Literaturwissenschaftler und Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften Wien (IFK). Lutz Musner, Dr. habil., ist dort als Forschungsleiter tätig.
Leseprobe
Vorwort Michael Geyer Der vorliegende Band versammelt Beiträge einer Tagung, die im Herbst 2011 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien stattfand. Dies war eine erste Konferenz zum Thema Geopolitik des Ersten Weltkriegs, der in den Jahren 2012 und 2013 zwei weitere zu den Themen "Technopolitik" und "Politik der Sinne" folgten. Die gesamte Serie mit dem Titel A Time for Destruction diente dem Ziel, den Ersten Weltkrieg aus der Rückschau des 21. Jahrhunderts in eine neue Perspektive zu rücken und zeitlich wie auch räumlich in einen breiteren Kontext europäischer und globaler Entwicklungen einzubetten. Der leitende Gedanke dabei war, den dinglich wie gedanklich erstarrten und inzwischen zur Formel geratenen Monumentalismus der Weltkriegsvorstellungen und nicht zuletzt der Weltkriegserinnerung aufzubrechen, der sich wie ein Panzer um dieses Ereignis gelegt hatte. Ohne die grundstürzende Qualität des Krieges zu unterschätzen, wollten wir die Vorstellung des Krieges als "Urkatastrophe" prüfen. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass der Große Krieg ein erster Verdichtungsknoten in einem seit geraumer Zeit anschwellenden Prozess der Gewaltorganisation war, in dem ältere Formen und Vorstellungen durch neue, imperiale und globale Gewaltprojektionen sowie industrielle Gewalttechniken überlagert wurden. Letztere sollten die Entwicklung Europas bis in das späte 20. Jahrhundert prägen. Der Krieg war, wenn man so will, eine Katastrophe mit Dauer. Der Zeitpunkt schien uns jedoch verfrüht für eine Konferenz, die diesen Gesamtkontext behandelt hätte. Sie hätte den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg spannen müssen, von den kleinen Kriegen auf dem Balkan bis zu den "vergessenen Kriegen" der nationalen Befreiung, von Kolonialismus und Rassismus bis hin zu den Bürgerkriegen in Folge des Weltkriegs und zu den Bürgerkriegen des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts. Wichtiger als diese Sicht der Dinge war uns die Frage, ob wir mit der Vorstellung des Großen Krieges als "Urkatastrophe" nicht falsch liegen - und das nicht nur deswegen, weil zumindest in der östlichen Hälfte Europas diese Katastrophe nicht als Ende, sondern als neuer Anfang erlebt wurde. Dabei wollten wir keineswegs die Bedeutung des Ausmaßes der Zerstörung herunterschrauben. Vielmehr experimentierten wir mit der Idee, dass der Krieg nicht ein monumentales Ding an sich sei, dessen Spuren wir in der Erinnerung festmachen können, sondern ein explosiver Moment der Krise in einer sich verändernden Welt. Die Idee einer "Urkatastrophe" schien uns zu sehr der Vorstellung nachzuhängen, der Krieg sei in eine politisch und sozial intakte Ordnung der Welt eingebrochen, während wir ihn eher als Ausdruck einer Zeit der dramatischen Veränderung der Welt zu begreifen versuchten. Uns interessierte, welchen Unterschied die Gewalt in dieser Veränderung ausmachte. Der Weltkrieg - damit sind immer die großen und kleinen Weltkriegsakteure gemeint - brach, so die Ausgangsüberlegung, nicht in eine festgefügte Ordnung der Dinge ein, sondern versuchte mit zerstörerischen Mitteln eine sich verändernde Welt neu zu fügen. Dies geschah dann auch - aber ganz anders, als die Kalkulationen aller Kombattanten vorgesehen hatten. Die Eigendynamik des Krieges verselbständigte sich. Er wurde zur existentiellen Krise für Individuen wie für Nationen. Er griff radikal in das Gefüge der internationalen Beziehungen ein. Er überwältigte Sinneswahrnehmungen und zertrümmerte Sinnstiftungen. Die Ungeheuerlichkeit des Krieges wird sich immer wieder an dem Erschrecken und dem Erstaunen über die vernichtende Gewalt des Ersten Weltkriegs festhaken, die sich tief in die Erinnerung des 20. Jahrhunderts eingegraben hat. Es war eine Politik mit anderen Mitteln in einem, was die Gewaltverhältnisse anging, bereits demokratischen und industriellen Zeitalter, in dem Gewalt immer von der gesamten Gesellschaft ausging und auf diese mit der geballten Destruktionskraft industrieller Massenproduktion und den Ressourcen der ganzen Welt zurückschlug. Wir haben drei Zugangspunkte gewählt. In einem ersten Zugriff versuchten wir, die tektonischen Verwerfungen europäischer Räume zu bestimmen. Die Beiträge von Karl Schlögel, Hew Strachan und Lutz Musner haben jeweils eine bestimmte Geopolitik im Auge. Allen drei Beiträgen ist gemein, dass sie Raum nicht schlechthin als Handlungsrahmen verstehen, sondern als Gewaltpotential begreifen. Gewalt konstituiert Räume, schafft aber auch die Bedingungen (und Grenzen) für die Mobilisierung von Gewalt. Eine zweite Perspektive richtete sich darauf, in knapper Form eben jene besondere Schrecklichkeit des Krieges zu artikulieren, welche die Vorstellung der Zeitgenossen so radikal sprengte. Jay Winter, Richard Bessel und Laura Engelstein widmen sich diesem Themenkomplex, indem sie auf je eigene Weise - mit Blick auf die Anwendung von Giftgas, auf die Politik von Migration und Vertreibung sowie auf Terror als Mittel der Kriegführung - erarbeiten, wie dieser Krieg "aus der Art" der vorangegangenen Kriege und mehr noch aus jener der bis dato üblich gewesenen Vorstellungen von Krieg schlug. Der dritte Teil der Beiträge wendet sich dann der Politik der Sinne zu und legt offen, wie zentral diese Politik für jegliche Form der Kriegführung ist. Krieg ist staatlich ausgelöste und disziplinierte Leidenschaft. Der Preis des Sieges ist immer Tod und Zerstörung. Was daraus folgt, war durchaus überraschend. Tamara Scheer und Patrick Houlihan verweisen in zwei ganz unterschiedlichen Zugriffen auf die Beharrungskraft von Traditionen und auf überkommene Lebenskonzepte als Ressource, die im Einbruch der Gewalt eher noch gestärkt werden. Elisa Primavera-Lévy und Helmut Lethen zeigen andererseits, wie Gewalt erst in der Artikulation zur Erfahrung wird und wie sehr die Art und Weise dieser Erfahrung durch Vorgaben einer künftigen Ordnung der Welt und damit auch des Weltinnenraums der Seele geprägt werden. Der Erste Weltkrieg wird hier zu einem Laboratorium für eine Politik der Sinne, die gerade deshalb so nachhaltig wirkt, weil sie eine Ordnung der Welt verspricht. Die tektonischen Verwerfungen weniger des europäischen Raumes als der europäischen Zivilisation entlang den Brüchen der gewaltigen kriegerischen Auseinandersetzung in Europa gewinnen so an Kontur. Das Bild vom kommenden Krieg als einem Erdbeben oder als funkensprühender Kollision von Kraftfeldern gehört zu den eindringlichsten Vorahnungen der Zerstörung. Die Totalität des Krieges hat dann in der Tat in der Art eines Erdbebens alle Aspekte der europäischen Zivilisation erfasst: die räumliche Ordnung Europas und der Welt und damit Herrschaft und Legitimation; die Ordnung der Lebenswelten mit ihren sozialen Bindungen von Individuen und Gesellschaft; und nicht zuletzt das subjektive Selbstgefühl, die Seelenordnungen und damit den weiten Raum der Innerlichkeit in der Erfahrung außerordentlicher Gewalt. Michael Geyer, Chicago im Juli 2014 Von der Lust am Leben zur Arbeit am Tod: Zum Ort des Ersten Weltkriegs in der europäischen Geschichte Michael Geyer Krieg scheint uns in weite Ferne gerückt. Vielleicht fällt es heute deshalb so leicht, an den Ersten Weltkrieg zu erinnern. Dies geschieht mit Schaudern angesichts der Schrecken dieses Krieges und im Bewusstsein, dass seine Folgen katastrophisch waren. Aber das Erschauern findet hinter dem warmen Ofen statt und die Bilder des Schreckens sind schon lange keine erlebte Erinnerung mehr. Das mindert den Wert der Bilder nicht - und letztlich auch nicht die Erinnerung an diesen Krieg. Es ist nun einmal so, dass wir, die in eine andere Welt - unsere eigene, kleine, kriegsfreie Welt - hineingewachsen sind, die glücklichen Nachgeborenen sind. Das Glück der Nachgeborenen - es ist ein Glück, was immer Helmut Kohl damit machen wollte - führt uns auf geradezu traumwandlerische Art zurück in die letzten Tage des Friedens vor dem Ersten Weltkrieg, die dann so kräftig verhagelt wurden. Wir blicken zurück...