Beschreibung
Sebastian Mayer beleuchtet die Funktionen von NATO und EU bei der Formulierung und Durchführung äußerer Sicherheitspolitik. Ergeben sich hieraus Kompetenz- und Kontrollverluste für die Mitgliedsstaaten? Es wird deutlich, dass sich der harte militärische Kern von Sicherheitspolitik einer Internationalisierung weitgehend entzieht. Generell haben sich aber zusätzliche Strukturen herausgebildet, die staatliches Handeln zunehmend international einbinden.
Autorenportrait
Sebastian Mayer, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am SFB 597 'Staatlichkeit im Wandel' an der Universität Bremen.
Leseprobe
Europäische Sicherheitspolitik nach dem Ende der Systemkonkurrenz Seit Anfang der 1990er Jahre lassen sich in den internationalen Beziehungen Akteurs-, Struktur- und Prozessveränderungen beobachten, die für die europäische Sicherheitsarchitektur umfassende Folgen nach sich ziehen. In Europa hat sich durch die Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens die Zahl staatlicher Subjekte deutlich erhöht. Andererseits traten die zuvor durch die sowjetische Hegemonie in ihrem außen- und sicherheitspolitischen Handeln beschränkten ostmitteleuropäischen Staaten als aktive Akteure in Erscheinung. Aufgrund der vielschichtigen Herausforderungen, die mit deren Transformations- und Identitätsbildungsprozessen verbunden waren und teilweise noch sind, avancierten diese Länder oft auch zu sicherheitspolitischen Problemquellen. Überdies hat eine Diffusion von Bedrohungsperzeptionen stattgefunden, während einst alles durch die Optik des Systemgegensatzes gesehen und so die auch damals bestehenden Gegensätze und Problemstellungen großteils überdeckt wurden. Viele globale Aufgaben können mithin erst jetzt in Angriff genommen werden. Vor dem Ende der Bipolarität wurde Sicherheit überwiegend territorial definiert: als nationale Sicherheit, die es durch militärische Macht zu garantieren galt. Der Richtungspunkt politischen Handelns war folglich die Abwehr unmittelbarer Bedrohungen. Sicherheitsherausforderungen umfassen indes nicht länger ausschließlich Fragen von nationalem Überleben und territorialer Integrität. Angesichts kriegsfreier Gesellschaften in der Friedenszone der OECD-Welt rücken heute unschärfere und weiter entfernte transnationale Problemkonstellationen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese haben in Anbetracht einer Entterritorialisierung - eine Ausweitung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Handlungszusammenhänge über den Nationalstaat hinaus - trotz ihrer Entfernung Rückwirkungen auf den OECD-Raum. So wie Globalisierung im wirtschaftlichen Bereich große Strecken immer "kleiner" werden lässt, gilt nun auch für die Sicherheitspolitik: Geographische Distanz wird zu einem immer weniger relevanten Faktor in der Gefahrenanalyse. Angesichts dessen wurde der Begriff "globale Herausforderungen", später apostrophiert als "neue Risiken", geprägt. Zu den aktuellen Problemlagen gehören "kleine Kriege" zwischen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren wie etwa Guerillakämpfern (Daase 1999) beziehungsweise "neue Kriege" oder regionalisierte Gewaltökonomien, bei denen sich ethnische, religiöse, machtpolitische und wirtschaftliche Handlungsmotive überlagern (van Creveld 1998; Kaldor 2000; Münkler 2004). Schon seit dem Ende der 1970er Jahre wurde deutlich, dass gewaltträchtige Antagonismen im Süden nicht ausschließlich als Folge der Supermachtrivalität begriffen werden dürfen, sondern oft über eine erhebliche Eigendynamik mit endogenen, jeweils spezifischen Konfliktursachen verfügen (Ayoob 1986; Senghaas 1989). Neue Kriege wurden in entfernten Regionen geführt (Angola, Sierra Leone, Kam-bodscha), aber auch an der europäischen Peripherie (ehemaliges Jugoslawien, Berg-Karabach, Tschetschenien). Gewalttendenzen erwachsen zunehmend aus solchen und ähnlichen Konfliktlinien innerhalb von Staaten, während zugleich gewaltsame Auseinandersetzungen kaum mehr zwischen staatlichen Akteuren ausgetragen werden (Gantzel/Schwinghammer 1995; Wegner 2000). Dazu kommen Aktivitäten des amorphen transnationalen Terrorismus, der grenz-überschreitend Gewalt anwendet und im Gegensatz zum internationalen Ter-rorismus durch dezentrale Netzwerkstrukturen gekennzeichnet ist (Schneckener 2006). Die aus fragilen Staaten wie dem Irak, dem Libanon oder Afghanistan resultierenden Risiken für westliche Staaten stellen eine weitere, mit den zuvor genannten in einem engen Zusammenhang stehende neue Herausforderung dar (Rotberg 2004). Denn auch diese transnationalen Entwicklungen deu-ten auf eine in die innerstaatliche Domäne hineinreichende globale Interdependenz hin. Die diesen Phänomenen zugrunde liegenden Prozesse können mit den Stichworten "Gestaltwandel kriegerischer Gewalt", "Politisierung von Akteuren", "Globalisierung" oder "Fragmentierung" versehen werden. Landesverteidigung im engeren Sinne wurde folglich immer bedeutungsloser, die Einhegung von Risiken rückte dagegen stärker in den Vordergrund. So impliziert heute "Verteidigung" kaum mehr die Abwehr potentieller Angriffe eines identifizierbaren Gegners auf das eigene Territorium, sondern "[d]ie erste Verteidigungslinie wird oftmals im Ausland liegen". Dies konnotiert eine vorausblickende "Verteidigung von Interessen" unterschiedlichster Art. Vor die-sem Hintergrund versteht die vorliegende Studie "Sicherheit" als die Abwesen-heit von Bedrohungen wie auch von Risiken: nicht intendierte Folgen geplan-ter Handlungen (Beck 1986; Giddens 1996). Risiken sind, weit mehr als Bedrohungen, subjektiv und kulturell determiniert. Während zu Zeiten des Ost-West-Konflikts auf Bedrohungen in deutlich größerem Maße reagiert werden konnte, steht eine zielgerechte Sicherheitspoli-tik heute stärker vor der Aufgabe, pro-aktiv vorzugehen. Dies bedeutet, dass sie künftige Problemstellungen und Veränderungen mehr als zuvor antizipieren und - vorbeugend, vorsorgend oder präemptiv - adäquate Entscheidungen aus einer ungleich größeren Zahl von Optionen zu treffen hat. Denn Risiken im hier diskutierten Phänomenbereich sind dadurch gekennzeichnet, dass mindestens eine der drei Dimensionen des klassischen Bedrohungsdreiecks - Akteur, Intention, Potential - unbekannt ist. Infolgedessen ist eine Fülle von Strategien vorstellbar, um dem entsprechenden Risiko zu begegnen (Daase 2002: 15-18; vgl. auch Williams 2009: 17-21). So lässt sich heute in der Sicherheitspolitik (im Gegensatz etwa zum Bereich Wohlfahrt) eine konsistente Präferenzordnung von Zielen und Mitteln noch schwerer vornehmen als früher. Die kooperative Bewältigung von Sicherheitsproblemen ist letztlich ein politischer Prozess, in dem Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielt: "Risk, after all, is a matter of perception, and every society has not only a different perception of risk, but also a different threshold for risk." (Williams 2009: 2) Zur Einhegung der komplexen Gewaltkonflikte bei möglichst geringen Kosten haben westliche Staaten in den vergangenen Jahren im Rahmen der NATO und der EU Fähigkeiten zur Durchführung multilateraler militärischer und ziviler Interventionen während und nach einer Konfliktsituation entwickelt. Diese Aktivitäten lassen sich mit den Begriffen "Friedensschaffung" und "Friedenssicherung" kennzeichnen. Neben der zahlenmäßigen Ausweitung sicherheitspolitischer Eingriffe in den 1990er Jahren hat sich auch deren Gestalt und Zielrichtung verändert. Militärische Interventionen wurden zuvor überwiegend von Großmächten praktiziert, hatten oft einen unilateralen Charakter und dienten in erster Linie der Absicherung ideologischer, machtpolitischer oder ökonomischer Einflusssphären. Statt einer solchen Fokussierung auf partikularistische "Besitz-Ziele" - eine Absicherung und Erweiterung eigener ma-terieller Güter auf Kosten Anderer - kam es nunmehr zu einer stärkeren Orientierung auf kollektive "Milieu-Ziele". Diese sind breiter angelegt und bestehen in der Strukturierung der Umgebung jenseits nationaler Grenzen (Wolfers 1962: 82). Die seit 1990 stattfindenden Interventionen zielen nämlich auch, teilweise sogar ausschließlich, auf die Durchsetzung demokratischer und humanitärer Prinzipien ab. Dies lässt sich besonders prägnant am Beispiel "humanitärer Interventionen" verdeutlichen, wie sie in Somalia, Ruanda oder im Kosovo durchgeführt wurden (Phillips/Cady 1996; Holzgrefe/Keohane 2003; Welsh 2004). Innerhalb der Charta der Vereinten Nationen (VN) besteht ein latentes Spannungsverhältnis zwischen dem Verbot der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt und dem Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist eine Ausnahme von dem Gewaltverbot zwar au...
Inhalt
Vorwort7 Einleitung und Fragestellung9 1 Zum Stellenwert internationaler Organisationen27 2 Internationalisierung von Sicherheitspolitik: Konzeptualisierung und Operationalisierung41 3 Funktionswandel und institutionelle Entwicklung von NATO und EPZ/GASP57 4 Entscheidungsfindung in der NATO-Präventions- und Interventionspolitik69 5 Entscheidungsfindung in der EU-Präventions- und Interventionspolitik121 6 Interinstitutionelle Beziehungen von NATO und EU171 7 Bündelung militärischer Fähigkeiten und Rollenspezialisierung203 Schlussfolgerungen und Ausblick243 Abkürzungsverzeichnis269 Verzeichnis der Tabellen und Grafiken273 Liste der geführten Hintergrundgespräche277 Literatur279 Personen- und Sachregister305