Beschreibung
Opfer oder Zeugen - in einer dieser Rollen werden Verfolgte des Nationalsozialismus meist wahrgenommen. Vergessen wird, dass sie es waren, die in vielen Bereichen Ansätze für eine kritische 'Bewältigung' der Vergangenheit schufen. Sie übernahmen in den 1950er Jahren wichtige Aufgaben bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen, aus denen sich die Behörden fast völlig zurückgezogen hatten. Auch waren es zunächst fast ausschließlich ehemalige Verfolgte, die über Judenverfolgung und Konzentrationslager forschten und publizierten. Im Jahrbuch werden die Situation und die Aktivitäten der unterschiedlichen Verfolgtengrup- pen in den ersten Nachkriegsjahren in verschiedenen west- und osteuropäischen Ländern geschildert.
Leseprobe
Fragen nach den Grundzügen und Konfliktherden sozialdemokratischer Vergangenheitspolitik in den Nachkriegsjahren und in der frühen Bundesrepublik erfordern einen geschärften Blick auf verschiedene Akteure, die hier in Erscheinung traten. Dass die "Dominanz Kurt Schumachers in der West-SPD" und "seine Äußerungen zum Dritten Reich und dessen Folgen" tatsächlich ausreichen, um "die Stellung der SPD insgesamt zu analysieren", ist zu bezweifeln. Eine Fixierung auf die Person Schumachers - auf so maßgebliche und nachhaltige Weise er auch den vergangenheitspolitischen Integrationskurs vorgab - vernachlässigt zahlreiche Ambivalenzen und Konflikte, die den Umgang seiner Partei mit der NS-Vergangenheit prägten. Auf allen Ebenen der Parteiorganisation und -hierarchie, in Kommunen, Landesparlamenten und im Bundestag wirkten nach 1945 Sozialdemokraten, die wie Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer und Fritz Heine NS-Verfolgte oder Exilanten waren, aber häufig ganz unterschiedliche Standpunkte vertraten. Besonderes Augenmerk verdient dabei die parteieigene Verfolgtenorganisation, die 1948 gegründete "Arbeitsgemeinschaft ehemals politisch verfolgter Sozialdemokraten" (AvS). Wie unterschiedlich das Verständnis von einer angemessenen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit unter sozialdemokratischen Verfolgten sein konnte, wie prägend das Engagement einzelner Akteure wirkte und wie einflusslos die Verfolgten an der Basis zugleich blieben, zeigt sich an zwei elementaren Aspekten der Vergangenheitspolitik - der Wiedergutmachung sowie dem Umgang mit "Mitläufern" und "Belasteten" des Nationalsozialismus. Nach Kriegsende Viele sozialdemokratische NS-Verfolgte, die 1945 aus einer oft jahrelangen Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern befreit wurden, die aus dem Exil, aus der Illegalität oder gar, weil sie in Strafbataillons zwangsverpflichtet worden waren, aus dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten, stürzten sich geradezu in die Wiederaufbauarbeit. Fritz Erler, der sich seit 1939 in Zuchthaushaft befunden hatte, machte für sein Leben "nach Hitler" bereits im Mai 1943 Pläne: "Auf alle Fälle wird meine Rückkehr nach Berlin mich nicht in eine lustige Geschäftigkeit reißen, wohl aber in ein randvolles Schaffen stellen, auf das ich mich heute schon freue. Aufgaben wird es geben, Aufgaben". Seine neue Wirkungsstätte fand Erler nach Kriegsende indes nicht in Berlin, sondern in Süddeutschland. Nach seiner Flucht aus einem Gefangenentransport war er im württembergischen Biberach gestrandet, wo er sich bis zum Einmarsch der Alliierten versteckte. Dort ernannten ihn die französischen Besatzungsmächte noch im Mai 1945 zum Landrat. Wie Fritz Erler beteiligten sich zahlreiche NS-Verfolgte am Aufbau kommunaler Verwaltungsstrukturen, übernahmen Funktionen in der wiedergegründeten SPD, in Gewerkschaften und in Parlamenten - trotz zum Teil gravierender gesundheitlicher Nachwirkungen der Verfolgungszeit. Mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren zum Zeitpunkt des Kriegsendes bildeten sozialdemokratische Verfolgte das unbelastete Pendant zur völlig diskreditierten Funktionsgeneration des Nationalsozialismus und wurden als anerkannte Gegner des NS-Regimes bei der Besetzung von Ämtern in Politik und Verwaltung durch die Alliierten bevorzugt. Eberhard Brünen, der als führender Kopf einer Duisburger Widerstandsgruppe der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) seit 1935 inhaftiert gewesen war, kümmerte sich nach der Befreiung des Zuchthauses Waldheim in Sachsen zunächst um die Versorgung und Rückführung von Mithäftlingen und wurde wegen eines Lungenleidens ärztlich betreut. Erst Ende Juli 1945 kehrte er ins Ruhrgebiet zurück. Eine "Schonzeit" kam für ihn jedoch nicht infrage: "Er kam zurück und sofort: Aufbauen, Aufbauen, Aufbauen." Schon am 1. August 1945 nahm Brünen seine Arbeit als Parteisekretär des SPD-Unterbezirks Duisburg auf, ließ sich in den Vorstand und wenig später in die Stadtverordnetenversammlung wählen. Leo Radtke, ein mehrfach vom Volksgerichtshof verurteilter Sozialdemokrat und Gewerkschafter aus Hamm, der zuletzt im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert gewesen war, litt infolge der Haft an einem "vorzeitige[n] körperliche[n] Verschleiß, hochgradige[r] Lungenblähung mit chronischer Bronchitis, Herzkreislaufbeschwerden und eine[r] Arthrose beider Schultergelenke" und war zu 70 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Dennoch nahm Radtke kurz nach seiner Rückkehr eine Anstellung bei der Bezirksregierung Arnsberg an. Dort war er für Fragen der Fürsorge und Entschädigung von NS-Verfolgten zuständig und stieg wenig später zum Leiter der Wiedergutmachungsabteilung auf. Die Betreuung und Beratung anderer NS-Opfer entwickelte sich zu einem zentralen Betätigungsfeld vieler sozialdemokratischer Verfolgter. Erste lokale Fürsorgestellen für ehemalige Häftlinge entstanden 1945 vielerorts auf Initiative der politisch Verfolgten. Überkommene sozialdemokratische Milieustrukturen boten den Verfolgten in den Nachkriegsjahren einen wichtigen Anknüpfungspunkt für soziale und politische Netzwerke, die gerade in den oft komplizierten und langwierigen Entschädigungsverfahren hilfreich sein konnten. Für den SPDBundestagsabgeordneten Hermann Runge auch er hatte als führendes Mitglied einer Duisburger Widerstandsgruppe zehn Jahre in der Haft verbracht war das politische und soziale Engagement der NSVerfolgten in der Nachkriegszeit nicht nur Ergebnis des Vertrauensvorschusses, den ihnen die Besatzungsmächte gewährten, sondern auch der Ausdruck eines besonderen Pflichtbewusstseins der Zurückgekehrten. Sie fanden sich nach 1945 zusammen, "um den vollkommenen Verfall der Kommunalverwaltung zu verhüten und die Versorgung der Bevölkerung im Rahmen des Möglichen zu sichern", und fühlten sich "bewußt oder unbewußt für das ganze Volk, ja schließlich für ganz Deutschland verantwortlich". Der demonstrative Aufbauwille konnte auch als Botschaft an die einstigen Verfolger gedacht sein: "Mein Bestreben war es immer", so der Kasseler Widerstandskämpfer Willi Goethe, "durch meine Arbeit die Menschen zu beschämen, die uns so Furchtbares angetan haben." Zuallererst war der unermüdliche Aktivismus der Verfolgten der Notwendigkeit des Wiederaufbaus geschuldet. Zugleich war er aber ein Mittel zur Verdrängung ihrer traumatischen Erfahrungen der Verfolgungszeit, die weitgehend beschwiegen wurden auch wegen des verbreiteten Desinteresses oder Unbehagens, mit dem die Mehrheit der "Mitläufer" ihren Geschichten begegneten. Im Rückblick auf die frühen Nachkriegsjahre äußerte der zurückgekehrte Emigrant und jüdische Sozialdemokrat Max Diamant im Jahr 1980, man sei "mit einer großen Geste der Verdrängung über diese schmerzliche eigene Vergangenheit, über diese schmerzliche Vergangenheit in diesem Volk und in diesem Lande [] hinweggeschritten. [] Und darum hat jeder sich auf seinem Arbeitsgebiet [] ganz und gar hineingestürzt." Die Gründung einer parteieigenen Verfolgtenorganisation Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) entwickelte sich nach ihrer Gründung in den Jahren 1946/47 schnell zur zentralen Anlaufstelle und Interessenvertretung ehemaliger NS-Verfolgter. Auch wenn die Kommunisten die VVN von Beginn an - zumindest zahlenmäßig - dominierten, war es für ehemalige Häftlinge aus sozialdemokratischen und sozialistischen Widerstandskreisen zunächst ganz selbstverständlich, dieser Verfolgtenorganisation beizutreten, ihre Fürsorge- und Beratungsdienstleistungen zu beanspruchen oder auch Funktionen in ihr zu übernehmen. Die SPD-Parteiführung hingegen beobachtete die VVN mit großem Argwohn. Schon im November 1946 beriet der Parteivorstand über die vom Hauptausschuss "Opfer des Faschismus" in Berlin im Anschluss an die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geäußerte Absicht, eine deutschlandweit tätige Verfolgtenorganisation zu schaffen. In einem vertraulichen Rundschreiben empfahl man den Parteigliederungen, "die Anregung zur Gründun...
Inhalt
Inhalt Katharina Stengel Einleitung I. Von der Opferfürsorge bis zur kalkulierten Provokation: Die NS-Verfolgten als politische Akteure der Nachkriegszeit Harald Schmid "Wiedergutmachung" und Erinnerung Die Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen Kristina Meyer Sozialdemokratische NS-Verfolgte und die Vergangenheitspolitik Christa Paul Frühe Weichenstellungen Zum Ausschluss "asozialer" Häftlinge von Ansprüchen auf besondere Unterstützungsleistungen und auf Entschädigung Thomas Irmer "Ihr langes Schweigen ist sicherlich tiefe Resignation ..." Norbert Wollheim, Edmund Bartl, Hermann Langbein und die Auseinandersetzung um Entschädigung für NS-Zwangsarbeit nach 1945 Brigitte Bailer-Galanda Konkurrenz - Konflikt - Spielball der Politik Verbände der NS-Opfer in Österreich nach 1945 Anne Klein "Militants de la Memoire" Repräsentationen jüdischen Engagements in den 1970er Jahren II. KZ-Überlebende als HistorikerInnen der Konzentrationslager Philipp Neumannn "... eine Sprachregelung zu finden" Zur Kanonisierung des kommunistischen Buchenwald-Gedächtnisses in der Dokumentation Mahnung und Verpflichtung Katharina Stengel Auschwitz zwischen Ost und West Das Internationale Auschwitz-Komitee und die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes Auschwitz. Zeugnisse und Berichte Susan Hogervorst Erinnerungskulturen und Geschichtsschreibung Das Beispiel Ravensbrück III. Interventionen jüdischer Überlebender in Europa Franziska Bruder Handlungsstrategien jüdischer Überlebender in Polen zwischen 1944 und 1950 Stephan Stach "Praktische Geschichte" Der Beitrag jüdischer Organisationen zur Verfolgung von NS-Verbrechern in Polen und Österreich in den späten 40er Jahren Laura Jockusch "Appell an das Weltgewissen" Jüdische Holocaustdokumentation in der frühen Nachkriegszeit am Beispiel Frankreichs Anke Zimmermann Vom Umgang mit dem Grauen Selbstzeugnisse jüdischer Künstler in der Tschechoslowakei 1945-1990 Abkürzungsverzeichnis Autorinnen und Autoren
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Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust >