Beschreibung
Ignác Halász hieß der Photograph der ungarischen Kleinstadt, die uns László Márton in seinem neuen Roman vorstellt. Seine Porträts von Menschen und Landschaften, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anfertigte, sind verschwunden wie er selbst. Geblieben sind die Schemen der Erinnerung, sind die Schatten, die sich wie Gestalten entlang der ehemaligen Hauptstraße bewegen. Márton erweckt diese Gestalten zum Leben. Anhand des Schicksals zweier Mädchen beschreibt er, wie es den Freunden, Verwandten und Nachbarn von Aranka Róth und Gaby Göz ergangen sein mag, wie in das friedliche, bürgerliche, jüdische Milieu die Geschichte eindrang, wie Menschen verfolgt und diskriminiert wurden und ihnen allmählich nichts anderes mehr blieb als Flucht und Verderben. Ein präziser Bilderreigen von einem der einfallsreichsten Erzähler der jüngeren Generation.
Autorenportrait
László Márton, 1959 in Budapest geboren, studierte Literaturwissenschaft und Soziologie. Er übersetzte unter anderen Heinrich von Kleist, Goethe und Grillparzer ins Ungarische. Seit 1984 erscheinen Romane, Dramen und Essays; 1998/99 erhielt er ein DAAD-Stipendium in Berlin. Die wahre Geschichte des Jakob Wunschwitz ist 1999 bei Zsolnay erschienen. 2003 folgte der Roman Die schattige Hauptstraße.
Leseprobe
Feri Ullmann hat drei große Brüder. Der älteste heißt János; er steht draußen im Hof und antwortet seinem heimkehrenden Vater: Ob ihn jemand gesucht habe? Sogar mehrere. Und wer ihn denn gesucht habe? Spatzen in der Scheiße. Und das ist insofern eine richtige Bemerkung, als Rudolf Ullmann, vorerst noch, eine Futtermittelhandlung besitzt; János aber wird wegen dieser und ähnlicher Äußerungen nicht bestraft, da János stark hustet. Wenn er gefragt wird, wie sein Befinden ist, antwortet er: in voller Blüte, wie ein verfaulter Kürbis oder frisch, wie der Fisch im Netz; wichtig ist ihm nur, daß er sich immer mit etwas vergleicht, was niemandem sonst in den Sinn kommen würde. In der sogenannten Wirklichkeit erlauben wir uns allerdings die Bemerkung, daß es nicht János war, der hustete, sondern der zweitgeborene Sohn, László doch jetzt nehmen wir László den Husten weg und geben ihn János. Damit aber auch László nicht leer ausgeht, statten wir auch ihn mit einer Eigenheit aus, zum Beispiel mit einem geheimnisvollen Lächeln, ja wir erlauben ihm sogar das Fliegen: Wir setzen ihn in das Papierflugzeug im Fotoatelier von Ignác Halász (wenngleich die darauf prangende Aufschrift leider eindeutig belegt, daß die Maschine zu einem Atelier in der Hauptstadt, vielleicht dem Fotosalon am Vergnügungspark gehört; aber da die Großzügigkeit eine Voraussetzung dafür ist, aus unserer Phantasie die Schatten wieder zum Leben zu erwecken, nehmen wir dem Vergnügungspark das Papierflugzeug mitsamt den drei Löchern, in die man hineinschlüpfen kann, weg und geben es Ignác Halász, ungeachtet der Tatsache, daß Ignác Halász nicht gern über den Wolken schwebt). Erlauben wir ihm zu fliegen, von nirgendwo nirgendwohin, am Papierhimmel über der Papierstadt, bis das auf den Schnabel des Papierflugzeugs gemalte Jahr, welches der Tag unserer Geschichten mit den vorhergehenden und den darauffolgenden Jahren in sich vereint, zu Ende geht; und damit der geheimnisvolle Gesichtsausdruck auch irgendeinen Sinn hat, schicken wir ihn in den Burggarten zum Küssen. Inzwischen geht im Schuppen von Ullmanns das Fliegen weiter: Feri Ullmann balanciert, die Arme ausgebreitet, auf einem Bein oben auf den Säcken, und er surrt fast so laut wie die Flugzeuge, die am Tag der Geschichten in Formationen am Horizont schweben. Die schwarzen Wolken sind aus Mohn, die weißen aus gelben Erbsen, Reis und Weizen. Man kann sich in den Wolken wälzen, man kann die Wolken zwischen den Fingern zerrinnen lassen, man kann sogar in die Wolken beißen. Und flöge hier unter den Balken im Schuppen der Ullmanns, zusammen mit Feri Ullmann, der surrt, mit Pista Go?z, der das an ein Sieb erinnernde Lenkrad hält, und Aranka Róth, die das Einschlagen der Blitze beobachtet, auch Kató Regnár mit, dann gäbe es auch Hagel oder Schnee, je nachdem ob Kató Regnár in der braunen Papiertüte Kristallzucker oder Puderzucker aus dem Geschäft ihres Vaters mitbringen würde. Der Schnee wie der Hagel werden in der Zuckerfabrik von Baron von Hatvani hergestellt, wo der Dichter Miklós Radnóti, der seine Arbeit an der Übersetzung von Shakespeares Lustspielen abbrechen wird, lange Zeit mit dem Putzen der Bottiche, in denen die Rüben gekocht werden, verbringen wird. Wir müssen aber hinzufügen, daß jener Hagel, der in der demnächst enteigneten Zuckerfabrik von Baron von Hatvani, dem großzügigen Mäzen der Wissenschaften und Künste, hergestellt wird, nicht hinreichend wirkungsvoll ist, weil man ihn höchstens knistern lassen kann. Der Kandiszucker hingegen, der zum alles vernich Leseprobe
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