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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783550087561
Sprache: Deutsch
Umfang: 368 S.
Format (T/L/B): 4 x 21.9 x 14.9 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Ein junger Moslem reist illegal über die Türkei und Dänemark nach Deutschlandein. Im Hamburger Stadtteil Altona bittet er eine türkische Familie um Hilfe. Nurlangsam finden die verängstigten Gastgeber heraus, wer der Fremde ist und waser in der Hansestadt will. So beginnt John le Carres meisterhaft komponierterRoman über unsere Gesellschaft des Verdachts nach dem 11. September 2001.In einem raffiniert gesponnenen Netz aus privaten und politischen Interessenbe wegen sich seine Figuren zwischen Gewissenlosigkeit und Nächsten liebe,eis kaltem Kalkül und Gleichgültigkeit. Die Bedrohung durch den islamistischenTerror wird zur Kulisse für ein skrupelloses Spiel der Geheimdienste.

Leseprobe

Von einem türkischen Schwergewichtsmeister, der Arm in Arm mit seiner Mutter eine Hamburger Straße entlangspaziert, kann wohl niemand verlangen, daß er es bemerkt, wenn ihn ein klappriger junger Mann in schwarzem Mantel verfolgt. Big Melik, wie er bei seinen zahlreichen Bewunderern hieß, war ein gutmütiger Riese, etwas zottelig, etwas zerzaust, mit einem breiten, von Herzen kommenden Grinsen, schwarzem Pferdeschwanz und einem unbeschwerten, wiegenden Gang, der auch ohne seine Mutter den halben Bürgersteig einnahm. Mit seinen zwanzig Jahren war er in seiner kleinen Welt eine Berühmtheit, und das nicht nur wegen seiner Verdienste im Boxring: er war Jugendsprecher seines islamischen Sportvereins, er war dreimaliger norddeutscher Vizemeister über hundert Meter Schmetterling, und samstags feierte er im Fußballtor Triumphe. Wie die meisten sehr großen Menschen war er es außerdem eher gewohnt, Blicke auf sich zu ziehen, als um sich zu blicken: auch das ein Grund, warum der klapprige Junge ihm drei Tage am Stück unbemerkt folgen konnte. Zum erstenmal wurde er auf ihn aufmerksam, als er mit seiner Mutter Leyla aus dem Al-Umma-Reisebüro kam, wo sie Flüge für die Hochzeit seiner Schwester in ihrem Heimatdorf in der Nähe von Ankara gebucht hatten. Melik spürte, daß ihn jemand anstarrte, sah sich um und fand sich Angesicht in Angesicht mit einem sehr großen, entsetzlich mageren jungen Mann mit struppigem Bart, geröteten, tief in den Höhlen liegenden Augen und einem langen schwarzen Mantel, in bedem drei Zauberer Platz gehabt hätten. Er trug eine schwarzweiße Kefije um den Hals und über der Schulter eine Satteltasche aus Kamelleder, wie Touristen sie als Mitbringsel kaufen. Von Melik sah er zu Leyla, dann wieder zu Melik, immer mit dem gleichen unverwandt-flehenden Blick aus glühenden, eingesunkenen Augen. Trotzdem hätte die Verzweiflung, die der Junge ausstrahlte, Melik nicht übermäßig nahegehen müssen, denn das Reisebüro lag am Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs, der zu jeder Tages- und Nachtzeit von verlorenen Seelen aller Art bevölkert war: deutschen Obdachlosen, Asiaten, Arabern, Afrikanern oder auch Türken wie Melik, die es nur schlechter getroffen hatten als er – ganz zu schweigen von den Beinamputierten auf Elektrowägelchen, Dealern und ihren Kunden, Bettlern mit ihren Hunden oder dem siebzigjährigen Cowboy mit Stetson und silberbeschlagener Lederreithose. Wenige hier hatten Arbeit, und eine Handvoll hätte deutschen Boden gar nicht erst betreten dürfen und wurde im Zuge einer gezielten Verelendungspolitik bestenfalls geduldet, bis die Abschiebung sie ereilte, für gewöhnlich im ersten Morgengrauen. Nur Neuankömmlinge oder die ganz Verwegenen gingen das Risiko ein. Erfahrenere Illegale machten einen großen Bogen um den Bahnhof. Ein zweiter guter Grund, den Jungen zu ignorieren, war die klassische Musik, mit der die Stadt über eine Batterie strategisch verteilter Lautsprecher diesen Teil des Bahnhofs beschallte: Musik, die nicht dazu gedacht war, unter den Zuhörern Wohlbehagen zu verbreiten, sondern, im Gegenteil, sie zu vertreiben. Doch trotz alledem prägte sich das Gesicht des klapprigen Jungen Melik ein, und einen flüchtigen Moment lang schämte er sich für sein eigenes Glück. Aber warum eigentlich, verdammt? Etwas Phantastisches war geschehen, und er konnte es kaum erwarten, seine Schwester anzurufen und ihr zu erzählen, daß Leyla, die sechs Monate nicht vom Sterbebett ihres Mannes gewichen war und sich dann ein Jahr lang die Seele aus dem Leib getrauert hatte, jetzt plötzlich übersprudelte vor Vorfreude auf die Hochzeit ihrer Tochter und aufgeregt überlegte, welches Kleid sie anziehen sollte, ob die Mitgift auch üppig genug war und ob der Bräutigam wirklich so blendend aussah, wie jeder, allen voran Meliks Schwester, behauptete. Was also sollte Melik davon abhalten, in die Fröhlichkeit seiner Mutter einzustimmen? – denn das tat er, aus vollem Herzen, den ganzen Weg bis nach Hause. Es war die Stille, die den Jungen umgab, entschied er später. Diese Falten, die sich in ein Gesicht gegraben hatten, das so jung wie sein eigenes war. Dieser Hauch von Winter an einem strahlenden Frühlingstag.

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