Autorenportrait
Andreas Pröve, Fotojournalist und ehemaliger Tischler, geboren 1957, verunglückte als 23-Jähriger mit seinem Motorrad und ist seitdem querschnittsgelähmt. Drei Jahre nach dem Unfall brach er zu seiner ersten großen Indien-Reise im Rollstuhl auf; später durchquerte er monatelang Asien, wo er unter anderem für 'terres des hommes' über Kinderarbeit recherchierte. Auch den Vorderen Orient hat er ausgiebig bereist. Andreas Pröve erschloss sich mit dem Rollstuhl alle Erdteile. Von seinen Reisen berichtet er in packenden Reportagen und Multivisionen. Er wurde mit dem Weitsichtpreis ausgezeichnet und veröffentlichte bislang drei Bücher: 'Mein Traum von Indien', 'Meine orientalische Reise' und zuletzt 'Erleuchtung gibt's im nächsten Leben'. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt Andreas Pröve in der Lüneburger Heide.
Leseprobe
Der ganz normale Wahnsinn Auf dem Gehsteig habe ich einen herrlichen Blick auf die grüßte Attraktion der Stadt - den Verkehr. Was ich sehe, kriegt mein Verstand nicht zu fassen: ein Paradox, an dem jeder Chaosforscher seine Freude hätte. Es rauscht ein Meer bunt behelmter Geisterfahrer auf Mopeds in allen Richtungen an mir vorüber. Überall sehe ich Kollisionen voraus, hüre schon das Krachen von Blech und Plastik, doch nichts passiert. Es muss ein Wunder sein. Oder besitzen diese Menschen ein mir unbekanntes Sinnesorgan, das sie befähigt, sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch ein schier undurchdringliches Gewirr anderer Mopeds zu lavieren? Ich bin fasziniert. Grüßte Bewunderung habe ich für die Linksabbieger. Sie müssen sehenden Auges in den gegenläufigen Verkehr fahren. Eigentlich Selbstmord. Todesmutige Individualisten, Rebellen mit eigenem Kopf, kürzen den Kreisverkehr ab und fahren links herum, um sich den scheinbar unsinnigen Umweg zu sparen. Geht gar nichts mehr, muss der Bürgersteig herhalten. Spiegelt sich hier etwa die vietnamesische Mentalität? Wenn es so ist, muss es ein Volk von Querdenkern, Anarchisten und Partisanen sein. Auf Anhieb sympathisch. Nach einer Weile glaube ich, hinter den Überlebenstrick der Dschungelkämpfer auf zwei Rädern gekommen zu sein: Es ist der Blickkontakt, er muss es sein. Kommunikation mit den Augen ist das Geheimnis, denn die Hupe wird kaum bemüht, und eine spezielle Geste gibt es nicht. Mir ist klar, Ho-Chi-Minh-Stadt hält für mich ihren Initiationsritus bereit. Überlebe ich sie - und das bedeutet, alles zu vergessen, was ich in der Fahrschule gelernt habe -, bin ich optimal auf meine Reise entlang des Mekong vorbereitet. Ich docke das Handbike vor meinen Rollstuhl, setze die Kurbel in die richtige Position und lege den ersten Gang ein. Sogleich fühle ich mich wie der Kajakfahrer beim Einsetzen ins Wildwasser. Eine große Herausforderung wartet auf mich, ohne dass ich die leiseste Ahnung hätte, wie das Spiel ausgeht. Ich fahre den Bürgersteig entlang bis zu einer Absenkung und fädele mich in den Strom ein. Das klappt schon ganz gut. Doch beim Überqueren der Kreuzung kommt es fast zu einer Kollision mit einem Stadtbus. Sosehr ich auch den Blickkontakt mit einem Lächeln suche - und alle lächeln freundlich zurück -, ich bewege mich doch wie ein Fremdkürper in der Masse. Fluchtartig ziehe ich mich zum rettenden Ufer, zum Gehsteig, zurück. Offensichtlich fehlt mir irgendein Trick, um sicher über die Straße zu kommen. Es ist wohl das rechte Augenmaß für die passende Lücke. Immerzu stürze ich mich in den Verkehr. Und jedes Mal lerne ich dazu, vor allem, was ich eigentlich längst weiß: Mein Rolli ist genau sechsundfünfzig Zentimeter breit, und jede Lücke von sechzig Zentimetern reicht. Dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, gehüre ich plützlich dazu. Linksabbiegen gegen den Verkehr?, kein Problem, wie von selbst tut sich eine Lücke auf. Den Kreisverkehr austricksen?, niemand nimmt mir das übel. Jetzt der Härtetest: bei Rot über die Ampel fahren und in den Querverkehr eintauchen. Es funktioniert. Augenblicklich fühle ich mich wie der Teil eines gigantischen Fischschwarmes, in dem eine wundersame Harmonie alle Verkehrsregeln ersetzt, gerade so, als hätte Buddha seine Hand im Spiel - gerade so, als wäre ich unverwundbar. Welch ein Start für eine Reise, die fünftausendsiebenhundert Kilometer weiter in der chinesischen Provinz Qinghai an der Quelle des Mekong zu ihrem Hühepunkt kommen soll. Sieben verschiedene Namen wird der Fluss bis dahin haben, sieben buddhistische Länder durchqueren oder streifen. Für Millionen Menschen ist der Mekong die Lebensgrundlage, die 'Mutter aller Wasser'. Im tibetischen Hochland, dort oben, wo er entspringt, nennen sie ihn Zaqu, das Wasser der Felsen. Doch bereits für die Chinesen in Yunnan ist er Lancangjiang, der Turbulente, Burma bezeichnet ihn als Mekaung Myit, majestätischer Fluss. In Laos und Thailand wird er zur Mae Nam Kong,
Schlagzeile
'Andreas Pröve lehrt uns die Sehnsucht nach der weiten, endlosen Erde.' Andreas Altmann>