Beschreibung
Lange glaubten die Deutschen, unter ihnen auch Intellektuelle wie Thomas Mann, Gottfried Benn oder Theodor W. Adorno, an die Überlegenheit der Kultur gegenüber der Politik und an ihre eigene Überlegenheit gegenüber den Nachbarn. Erst nach der Befreiung vom Nationalsozialismus entwickelte sich eine demokratische Verfassung, deren Autorität akzeptiert wurde und die bis heute die nationale Identität des Landes prägt. Wolf Lepenies beschäftigt sich mit dem in Deutschland so prekären Verhältnis von Kultur und Politik zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert und stellt damit die Katastrophen und Träume der Neuzeit in ein neues Licht.
Autorenportrait
Wolf Lepenies, geboren 1941, Soziologe und Historiker, von 1986 bis 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, war mehrere Jahre Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton (USA) und 1991/92 Inhaber der Chaire Européenne am Collège de France (Paris). Lepenies ist Ehrendoktor der Sorbonne und der Universität Bukarest und Offizier der Französischen Ehrenlegion. Er erhielt u.a. den Alexander-von-Humboldt-Preis, den Karl-Vossler-Preis, den Breitbach-Preis und den Theodor-Heuss-Preis. 2006 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2016 den Kythera-Preis. Zuletzt erschienen im Carl Hanser Verlag: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne (1997), Kultur und Politik. Deutsche Geschichten (2006), Auguste Comte. Die Macht der Zeichen (2010) und Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa (2016).
Leseprobe
Machtferne der Kultur Früher als in der Politik hatten die Deutschen in der Kultur ihre Einheit gefunden. Eine Zeit lang begnügten sie sich damit, ein 'Kulturvolk' zu sein, dessen Selbstwertgefühl nicht dadurch geschwächt wurde, dass Deutschland noch kein Staat geworden war. Mit den Freiheitskriegen änderte sich die Lage. Stolz auf Offiziere wie Blücher, Gneisenau und Scharnhorst, wurde den Deutschen bewusst, dass ihre Kultur alleine nicht ausgereicht hatte, um Napoleon zu besiegen: 'Nach 1815 musste das deutsche Kulturvolk erkennen, dass es in der rauen Welt der modernen Politik nur konkurrenzfähig war, wenn es durch einen machtvollen Staat unterstützt wurde, wenn es von einem Kulturvolk zu einem Kulturstaat wurde', wie der englische Historiker Hugh Trevor-Roper schrieb. Die Vorstellung eines Kulturstaates aber war Jacob Burckhardt wie Friedrich Nietzsche gleichermaßen fremd. Störrisch weigerte sich Burckhardt, Staat und Kultur miteinander zu identifizieren. Der Staat beruhte auf Macht, und Macht war etwas Böses und der Kultur fremd. Als der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, sagte Burckhardt voraus, dass die Kultur eines seiner Opfer sein würde. Friedrich Nietzsche ließ sich bei Kriegsausbruch von der Erziehungsbehörde in Basel - wohin er 1869, 24 Jahre alt, als Extraordinarius berufen worden war - beurlauben, 'um meinen Pflichten gegen das Vaterland zu genügen'. Im August 1870 wurde er als 'Felddiakon' an die Front geschickt. Am 19. Juli, dem Tag der französischen Kriegserklärung, hatte Nietzsche an seine Mutter geschrieben, der 'fluchwürdige französische Tiger' habe es auf 'unsere Kultur' abgesehen; um sie zu verteidigen, sei kein Opfer zu groß. Am gleichen Tag sprach er freilich in einem Brief an seinen Freund Erwin Rhode von 'unsrer ganzen fadenscheinigen Kultur', und am 12. Dezember 1870 machte ein Brief Nietzsches an Mutter und Schwester - inzwischen war er aus Krankheitsgründen wieder nach Basel zurückgekehrt - deutlich, wie sehr das Erlebnis des Krieges seinem ursprünglichen Enthusiasmus zugesetzt hatte: 'Für den jetzigen deutschen Eroberungskrieg nehmen meine Sympathien allmählich ab. Die Zukunft unsrer deutschen Cultur scheint mir mehr als je gefährdet.' Es war nicht länger der französische Tiger, welcher die deutsche Kultur bedrohte, es war der kommende preußische Sieg. Als Burckhardt und Nietzsche 1871 in Basel vom Brand des Louvre bei der Einnahme von Paris erfuhren, 'da durchzuckte kein Freudenstrahl die Herzen beider ob unseres Sieges. Nur tiefe Trauer über den möglichen Verlust all dieser Kunstschätze, gemischt mit Entrüstung gegen die preußischen "Barbaren" ward laut. So maßen diese bedeutenden Männer die großen geschichtlichen Dinge.' Als der Krieg gewonnen war, widersprach Nietzsche der populären Auffassung, mit der preußi-schen Armee habe in Sedan auch die deutsche Kultur gesiegt. So beginnt das erste Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen ('David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller') von 1873: 'Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilirend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein grosser Sieg ist eine grosse Gefahr. [...] Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrthum: der Irrthum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe [...]. Dieser Wahn ist höchst verderblich [...], weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu ... Leseprobe